Das Verhältnis von Anthroposophie und Waldorfpädagogik zu Querdenken, Verschwörungstheorien, Wissenschaftsleugnung und Rechtsradikalismus – Teil 1

Sharing is caring:

[aufmerksam auf diesen hervorragenden Text & Autor wurde ich durch Axel Burkart, bzw. durch das „Canceln“ seines Vortrags in Stuttgart durch die Anthroposophische Gesellschaft im Dezember 2022]

von Johannes Mosmann, mit freundlicher Genehmigung des Autors

„Es wäre doch schade, wenn diese Chinesen alle andern Rassen verdrängten“, bemerkte Albert Einstein in seinem Tagebuch.[1] Bislang haben sich jedoch erst wenige Albert-Einstein-Gymnasien von ihrem Namensgeber distanziert. Warum auch? Niemand käme auf die Idee, diese Schulen orientierten sich nicht an Einsteins Leistungen auf dem Gebiet der Physik, sondern an seinen rassistischen Auslassungen. Der Bund der Freien Waldorfschulen dagegen scheint genötigt, sich unentwegt von Rudolf Steiner zu distanzieren. Aber weshalb? Steiner-Schulen berücksichtigen ebenfalls dasjenige im Werk ihres Namensgebers, was sie selbst für richtig halten, und selbstverständlich nicht das, was sie ablehnen. Sie können nur an ihren eigenen Gedanken, Aussagen und Taten gemessen werden. Wie kommt es also, dass ihnen permanent fragwürdige Steiner-Zitate um die Ohren gehauen werden, wie zuletzt bei Böhmermann?

Die Kante gegen Rechts ging ins Auge

Eine Antwort auf diese Frage scheint mir darin zu liegen, dass der Bund der Freien Waldorfschulen den Namen „Rudolf Steiner“ als Marke eintragen ließ und somit das Monopol auf „Steiner-Pädagogik“ besitzt. Auch deshalb gelang es bisher kaum, in der Öffentlichkeit die Tatsache zu vermitteln, dass jede Waldorfschule selbständig ist, in der Regel von den Eltern getragen wird und jeweils ganz Unterschiedliches mit dem Namen Rudolf Steiner verbindet. Sobald nun irgendjemand an irgendeiner Waldorfschule Steiner rassistisch auslegt, fällt das auf alle Waldorfschulen zurück. Statt diese Fehlwahrnehmung zu korrigieren, verstärkt der Bund sie noch, indem er im Namen der „Marke Rudolf Steiner“ gegen Hinz und Kunz vorgeht, sich stellvertretend für alle Waldorfschulen von allem Möglichen distanziert und nun sogar vermeintliche Anknüpfungspunkte für Rechtsradikale im Konzept „der“ Waldorfschulen in den Focus der Öffentlichkeit rückt.

In einem aktuellen (PR?)-Video des Bundes mit dem Titel „Klare Kante gegen Rechts“[2] rollen munter Hakenkreuze zu bedrohlicher Musik durchs Bild, während die Sprecherin freimütig erklärt, das „genossenschaftliche Prinzip“ der Waldorfschulen werde von Nazis als „Leitidee für eine antikapitalistische und antijüdische Ideologie“ umgedeutet. Anknüpfungspunkte für Rechtsradikale böten außerdem Themen wie „Selbstverwaltung“, das „Erlernen alter und traditioneller Handwerke“, die Behandlung „auch der nordischen Mythologie“ im Unterricht sowie die „ökologische Landwirtschaft“.

Tendenziell ist das alles wahr. Ergänzen könnte man noch, dass insbesondere auch die Verankerung christlicher Werte, der vergleichsweise geringe Migrantenanteil sowie die ritualisierten Abläufe und Gemeinschaftserlebnisse Waldorfschulen attraktiv für Anhänger rechter oder rechtsradikaler Ideologien machen. Vielleicht noch mehr als Bio, Selbstverwaltung oder Handwerk. Gleichwohl ist mir der PR-Zweck, derartiges öffentlich auseinanderzusetzen, unerklärlich. Hat jemals eine evangelische Schule dargelegt, welche Abgründe mit dem Namen Jesus Christus verbunden werden können? Oder erklärte jemals ein Hersteller von Küchenmessern öffentlich, wie sein Produkt auch als Mordwaffe gebraucht werden kann? Nein, die evangelische Schule erläutert, was sie tatsächlich anstrebt, und der Messerhersteller den tatsächlichen Zweck seines Werkzeugs.

Offenbar wollte der Bund freier Waldorfschulen mal wieder seinen Kritikern gefallen, indem er die angeblichen „Gefahren“ der von ihm vertretenen Pädagogik selbst zur Schau stellte. Doch weder Böhmermann[3] noch sonst irgendein Waldorf-Hasser ließ sich davon milde stimmen, dass der Bund sich vorsorglich selbst ins Knie geschossen hatte. Warum auch? In der „kritischen“ Selbstbeschau des Bundes geht wiederum alles durcheinander – Waldorfpädagogik, Anthroposophie, linke Ideologie, neoliberale Ideologie, 68er-Romantik, grünes Parteibuch, rechte Mystik.

Ich habe selbst eine Waldorfschule besucht. Ich erinnere mich daran, wie mich mein Lehrer einmal in einem schrottreifen VW-Bus heimfuhr, der die Passanten in stinkende, schwarzblaue Schwaden einhüllte. Er erklärte mir stolz, dass er, indem er sich so den Neuwagen spare, dem Kapitalismus eins auswische und nebenbei auch noch die Umwelt rette. Dass die Waldorfpädagogik etwas mit einem „genossenschaftlichen Prinzip“ zu tun haben soll, ist mir trotzdem neu. Vielleicht ist ja das Steinersche „assoziative Prinzip“ gemeint (und somit etwas völlig anderes als das genossenschaftliche), gesehen durch die Brille solch alt-linker Gefühlsduselei.

Richtig gedeutet, handelt es sich bei der Steinerschen „Assoziation“ allerdings in der Tat um eine „antikapitalistische Ideologie“, und zwar um eine solche, die nicht nur jegliche Genossenschafts-Romantik, sondern auch sämtliche sozialistischen Systeme in den Schatten stellt.[4] Falls es also berechtigt ist, Antikapitalismus in einem Atemzug mit Antisemitismus zu erwähnen, wie der Bund offenbar meint, dann haben die Anthroposophen wirklich ein Problem. Waldorfpädagogen nicht unbedingt, denn die müssen ja weder die Anthroposophie, noch irgendein Wirtschaftssystem vertreten. Doch irgendwie scheint der Bund der Freien Waldorfschulen diese Dinge selbst nicht mehr auseinanderhalten zu können. Für wen genau spricht der Bund hier? Für die Waldorfpädagogik? Ihre bürgerliche Klientel? Rudolf Steiner? Die „Mehrheitsgesellschaft“? Oder für die ökologische Landwirtschaft? Klar, die ist total rechts, aber hat der Demeter-Verband nicht eine eigene Pressestelle? Mir drängt sich nach dem Genuss jener zweifelhaften Selbstdenunziation jedenfalls der Verdacht auf, dass in diese Pädagogik tatsächlich mehr Anthroposophie hineingepanscht wurde, als es Rudolf Steiner erlaubte.[5] Das könnte die Verwirrung erklären.

Ein unvermeidbarer Konflikt

Meine Kritik ist jedoch zugegeben nicht ganz fair. Denn selbst wenn der Bund der Freien Waldorfschulen die Leiche Rudolf Steiners nicht als „Marke“ mumifizierte, sondern sie endlich freigäbe und es den Anthroposophen überliesse, die Stimme aus dem Jenseits zu übersetzen; wenn er sich, von dieser Last befreit, zum Repräsentanten freier Schulen aufschwänge, blieben die Attacken doch nicht aus. Auch dann nicht, wenn es ihm gelänge, alle vermeintlichen Andockstationen für Nazis wie z.B. Selbstverwaltung, solidarisches Wirtschaften oder ökologische Landwirtschaft zu Versatzstücken grüner Parteiprogramme umzufunktionieren. Denn die Waldorfpädagogik, so sehr sie sich auch emanzipieren mag, lässt sich in einem Punkt niemals von Rudolf Steiner und der Anthroposophie trennen. Und das ist der Begriff des freien Geistes, als Subjekt, Objekt, Inhalt und Ziel dieser Pädagogik zugleich, und damit zusammenhängend auch in seiner sozialen Realisation als freies Geistesleben.[6]

Jede Waldorfschule lügt, sobald sie sich von Menschen, ganz gleich welcher Gesinnung, in dem Augenblick distanziert, da diese wegen ihrer Meinungsäußerungen angegriffen werden. Vertreter freier Waldorfschulen können anderer Meinung sein als „Corona-Leugner“, „Putin-Versteher“ oder „Aluhut-Träger“. Sie können sich aber weder an der Herabwürdigung der so bezeichneten Menschen, und sei es nur durch einen derartigen Sprachgebrauch, noch an Distanzierungs- oder Cancelling-Darbietungen beteiligen, ohne damit zugleich eine fundamentale Lüge über die Quelle der eigenen Pädagogik zu verbreiten. In dem Augenblick, da ein Mensch für seine freie Meinungsäußerung, und sei sie noch so irrig oder „gefährlich“, angegriffen, gedemütigt oder ausgegrenzt wird, sollten die ansonsten a-politischen Waldorfschulen bedingungslos an seiner Seite stehen – sofern sie eben Waldorfschulen sind.

Weil der freie Geist für sie keine verhandelbare Theorie, sondern eine Lebenstatsache ist, befinden sich Waldorfschulen, soweit sie so genannt werden können, prinzipiell und dauerhaft in einem Grundsatzstreit mit der angeblichen „Mehrheitsgesellschaft“ der Gegenwart. Und weil Letztere diese Tatsache wiederum völlig richtig einschätzt, vermag keine noch so heitere Selbstgeißelung etwas daran zu ändern, dass es für die Vertreter der „Erziehungskunst“ in den kommenden Jahren und Jahrzehnten sehr eng werden wird. Das aber ist der eigentliche Vorwurf, den man dem Bund der Freien Waldorfschulen machen muss: dass er kostbare Kraft und Zeit damit verschwendet, für Illusionen gedemütigt zu werden, anstatt den Tatsachen unbefangen ins Auge zu sehen und sich mit den freiheitsliebenden Kräften in unserer Gesellschaft zu solidarisieren – solange dies noch möglich ist. Sofern er dies vermeidet und stattdessen den anti-freiheitlichen Strömungen der Gegenwart das Wort redet, fördert der Bund auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, wenn auch unbewusst, den Siegeszug rechtsnationaler Bewegungen. Diesen Zusammenhang zu durchschauen setzt aber voraus, dass man die Entwicklungstenzen der Gegenwart überblicken und die Waldorfschulbewegung als historische Tatsache in dieselben einordnen kann. Beides soll im Folgenden skizzenhaft versucht werden.

Die Grenzen der Demokratie

Die EU-Kommission sieht in den von ihr soeben gemäß den Bestimmungen des neuen „Digital Services Act“ ergriffenen Zensurmaßnahmen[7], aber auch in der psychologischen „Inokulation“ von Schülergehirnen[8] keine Einschränkung der Freiheit – weil „Informationen“ keine „Meinungen“ seien. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärt: „Fakten sind eine Sache, Meinungen eine andere. Meinungen sind frei, Fakten sind Fakten.“[9] Solange sie keinen Wirklichkeitsbezug beanspruchen, können Gedanken somit weiterhin frei geäußert werden. Damit wird die Freiheitssphäre in den Bereich subjektiver Befindlichkeiten zurückgestaucht. Um die objektive Wahrheit kümmert sich die Regierung, damit die Menschen die „richtigen“ Entscheidungen treffen: „Demokratie ist ein System, das durch Informationen gespeist wird. Informationen sind das Rohmaterial der Demokratie. Wenn die Menschen nicht über die richtigen Informationen verfügen, wird es für sie schwierig sein, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ihre Entscheidungen müssen auf qualitativ hochwertigen Informationen, Fairness und Vertrauen in Fakten und Zahlen beruhen … Wir müssen dafür kämpfen, dass die Fakten die richtigen und wahren sind, um ein faires demokratisches System zu fördern.“[10]

Dieser Gedanke ist weder neu noch originell. Bereits Walter Lippmann, ehemaliger Berater des US-Präsidenten Wilson und Direktor des Council on Foreign Relations, beschrieb die Demokratie als eine von „Informationsdiensten“ gelenkte „Expertokratie“.[11] Und als sich führende europäische Ökonomen 1938 mit Lippmann in Paris trafen, um die zukünftige Ordnung Europas zu planen, unterstrich Alexander Rüstow in seiner Dankesrede an den US-Amerikaner, dass ein freier Markt nur funktionieren könne, wenn er in eine gesellschaftliche „Einheit“ eingebettet werde, die ihrerseits nicht auf Freiheit, sondern auf geistiger „Hierarchie“ beruhe.[12] Nach einigen Diskussionen über den richtigen Namen für das gemeinsame Vorhaben setzte Rüstow sich schließlich durch: es sollte „Neoliberalismus“ heißen.[13]

Der Gedanke ist aber auch nicht falsch. Die Wahrheit ist kein Produkt demokratischer Abstimmungen. Gleichwohl ist sie Voraussetzung für den Meinungsbildungsprozess und die nachfolgende demokratische Entscheidung. Demokratie ist folglich von einem sozialen Prozess abhängig, der seinerseits nicht demokratisch funktioniert. Mehr noch: dieser darf grundsätzlich nicht demokratisch geregelt werden, wenn Demokratie möglich sein soll. Eine Demokratie stimmt beispielsweise nicht darüber ab, welche religiöse Vorstellungen, Bildungsziele oder sexuelle Orientierung Menschen haben sollen. Und eben auch nicht über die Wahrheit. Ob Corona, Klimawandel oder Ukraine-Krieg – die Wahrheit darüber ist niemals Gegenstand demokratischer Abstimmungen, sondern, wie Josep Borrell ganz richtig bemerkt, deren Voraussetzung.

Demokratie ist somit nicht allein durch ein demokratisches Verfahren definiert, sondern insbesondere auch dadurch, dass dieses auf bestimmte Bereiche nicht angewandt wird. Hier liegt der Denkfehler vieler Maßnahmen-Kritiker, die wiederum abstrakt mehr „Demokratie“ fordern und somit das Grundproblem ausblenden. Es kann nicht jeder Bürger, nur weil gerade ein Virus wütet, plötzlich Virologe werden. Schon gar nicht im Google-Schnellkurs. Was gegen ein Virus hilft, ist deshalb niemals demokratisch, sondern nur durch die fachliche Kompetenz einiger weniger zu entscheiden. Genauso verhält es sich mit den unzähligen weiteren Sachfragen, deren Beantwortung das Volk von seinen Volksvertretern erwartet. Wenn aber die Wahrheit weder durch demokratische Abstimmungen gefunden werden kann, noch von der Regierung eigenmächtig aus dem Chor der Expertenmeinungen ausgewählt werden soll, dann befindet sich die Politik in einem Dilemma. Sie kann weder das eine, noch das andere tun, ohne gegen das Ideal der Demokratie zu verstoßen.

Das Grundproblem der Wissensgesellschaft

Dass die EU-Kommission nun mittels „Digital Services Act“ und „Inokulation“ der Bevölkerung versucht, eine kollektive Rezeption von „Wahrheit“ zu erzeugen und sich somit gewissermaßen rückwärts die geistig-moralische Unterstützung für ihr Handeln zu verschaffen, ist also durchaus folgerichtig. Das heißt nicht, dass man diese Entwicklung nicht kritisieren kann. Doch sollte die Kritik nicht bei Agitationen gegen einzelne Persönlichkeiten stehen bleiben, sondern in die Tiefenstruktur unserer Gesellschaft vordringen und ihr fundamentales Grundproblem zur Sprache bringen. Wenn jede Demokratie abhängig ist vom Prozess der Erkenntnisgewinnung und Wissensvermittlung, dieser Prozess seinerseits aber weder demokratisch funktionieren kann, noch von der Regierung beherrscht werden soll – wie ist er denn dann zu fassen? Wie kann er gestaltet werden, und wie ist sein Verhältnis zur Demokratie zu bestimmen?

Der erkenntnismäßige Fortschritt der Menschheit beruht auf einer hochgradigen und immer kleinteiligeren Spezialisierung. Jeder Mensch überschaut nur noch einen winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit mittels eigener Wahrnehmung. Nur für diesen kann er behaupten, die Wahrheit sei ihm aus eigener Anschauung „evident“. Der Großteil seines Wissens dagegen beruht auf der Übernahme der Urteile anderer Menschen, deren Wahrnehmungen ihm selbst nicht gegeben sind. Mit zunehmendem Wissen reisst also der unmittelbare Zusammenhang von Wahrnehmung und Begriff ab. Wir alle beobachten, wenn man so will, im Wesentlichen kein sinnlich Gegebenes mehr, sondern freischwebende Ideen. Und darin liegt im Grunde genommen das ganze Rätsel moderner „Wissensgesellschaften“: Wie bestimmen wir unsere Beziehung zu den Menschen, deren Urteile wir übernehmen? Wie werden wir geistig immun gegen „Falschbehauptungen“? Wie wird uns unser komplexes Wissen evident? Und wie ist eine gemeinsame Wahrheit möglich, wie finden wir zur gesellschaftlichen Einheit?

Das Äquivalent zur Demokratie

Wenn wir nicht im wahrsten Sinn des Wortes den Boden unter den Füßen verlieren und dem Leben entrückt werden wollen, müssen wir wiederum einen neuen, festen Grund für unser Urteilen finden. Das ist nur möglich, wenn wir mit unserer Urteilskraft von der Sach- auf die Beziehungsebene wechseln. Zwischen uns und der Wirklichkeit steht nämlich nun der andere Mensch, der die Fakten an unserer Stelle beobachtet und uns sein Urteil übermittelt. Die Fakten können wir nicht unmittelbar selbst beobachten – wohl aber diesen Menschen und unsere Beziehung zu ihm. Zwar ist selbstverständlich nicht jeder auf dem Fachgebiet des anderen urteilsfähig. Jeder besitzt jedoch potentiell die Fähigkeit, über die Vertrauenswürdigkeit des Anderen zu urteilen und ihn für sich zur „Autorität“ auf dem betreffenden Gebiet zu machen. Wir konnten diese Fähigkeit nur deshalb noch nicht entwickeln, weil wir es uns in den staatlichen Normierungen und Zertifizierungen bequem gemacht haben, die uns die eigene Urteilskraft in der Begegnung von Mensch zu Mensch bislang ersparen. „Experte“ ist für uns, wer als solcher „gilt“ – ohne dass wir ihn selbst hierzu ernannt hätten oder durchschauen, wie sein Status zustande kommt.

Hier setzt Rudolf Steiner an. Wie die Theoretiker der sozialen Marktwirtschaft sieht auch er Bereiche, die sich nicht demokratisch regulieren lassen – er nennt sie „Geistesleben“ und „Wirtschaftsleben“ – aber sie lassen sich seiner Ansicht nach dennoch gemeinschaftlich gestalten. Man müsse für diese Bereiche nur erst das „Äquivalent“ einer demokratischen Abstimmung finden. Gelinge dies nicht, weil wir Gemeinschaftsprozesse nur demokratisch denken können, entwickelten sich an den Rändern der Demokratie autoritäre Verhältnisse, die dann krebsartig in die Demokratie hinein wuchern und sie zerstören. Dem „Einheitsstaat“ stellte er deshalb das Bild einer „sozialen Dreigliederung“ entgegen: Man müsse im Geistesleben radikal auf die menschliche Freiheit bauen, dergestalt, dass sich wissenschaftliche Autorität gerade nicht aus einer staatlichen Anerkennung, sondern aus dem freien Zuspruch jedes einzelnen Menschen ergebe. Dann sei Freiheit auch in einer modernen Wissensgesellschaft möglich. Statt von staatlichen Subventionen sollte deshalb jeder Lehrer, Wissenschaftler oder Journalist abhängig von individuellen Zuwendungen gemacht werden. Auf diese Weise sei das Geistesleben von unten, von der Schule über die Universität bis hin zur Forschung aufzubauen. Das „Äquivalent“ zur demokratischen Abstimmung ist also auf geistigem Gebiet die individuelle, freiwillige Anerkennung des anderen Menschen.[14]

Dabei dachte der Begründer der Anthroposophie nicht etwa an Mäzenatentum, Sponsoring oder gar eine Ökonomisierung der Bildung. Vielmehr sei das Wirtschaftsleben wiederum so zu organisieren, dass jeder Mensch in die Lage komme, das Geistesleben nach Maßgabe seines individuellen Urteils mitzutragen. Freies Geistesleben, assoziatives Wirtschaften und Demokratie bedingten sich gegenseitig. Ohne Freiheit gebe es keine Gleichheit und umgekehrt: „Wenn das Geistesleben wirklich auf seinen eigenen Boden gestellt wird, dann wird es in diesem Geistesleben nicht irgendein soziales Zwangsverhältnis geben können, sondern nur das Verhältnis der freien Anerkennung. Und diese freie Anerkennung, die ergibt sich ganz von selbst innerhalb des sozialen Lebens … Es muß ein Gebiet da sein, wo sich die Menschen wirklich gleich fühlen. Das ist heute dadurch nicht da, daß auf der einen Seite der Staat aufgesogen hat das Geistesleben und auf der anderen Seite an sich heranzieht das Wirtschaftsleben, daß er also das Autoritative von beiden Seiten in sein Wesen hereinzieht und daß eigentlich gar kein Boden da ist, auf dem sich die Menschen, die mündig geworden sind, völlig gleich fühlen würden. Ist der Boden da, auf dem sich die Menschen, die mündig geworden sind, völlig gleich fühlen können, kann jemand wirklich empfinden: Ich bin als Mensch gleich jedem anderen Menschen, dann wird er auch auf dem Gebiet, wo er das nicht empfinden kann, weil es eine Absurdität ist, die Autorität anerkennen …“[15]

Das Konkurrenzprinzip

Kaum jemand wird behaupten können, er trüge eine Maske, weil er ihre Schutzfunktion wissenschaftlich untersucht habe. Vielmehr beruht das Handeln der überwiegenden Mehrheit auf dem fachlichen Urteil, das andere für sie fällten. Daran ist zunächst gar nichts auszusetzen. Selbstverständlich ist heute jeder Mensch vom Urteil anderer abhängig. Aber es macht einen Unterschied, ob diese Abhängigkeit auf Autoritätsgläubigkeit beruht, oder auf Erkenntnis der Fähigkeiten des Anderen, mithin eine frei gewählte ist. Wie ein Anderer für mich zur „Autorität“ wird, ob dies überhaupt auf einem bewussten Urteil meinerseits beruht, davon hängt mein Freiheitsstatus in unserer hochkomplexen Lebenswelt real ab. Und der Grad an Freiheit definiert wiederum, wieviel „Wahrheit“ tatsächlich in einer Gesellschaft lebt.

Wie kommt die Politik dazu, das Urteil von Christian Drosten für maßgeblich zu erachten? Wer ernannte den Software-Milliardär Bill Gates zum Chefarzt der Weltbevölkerung? So fragten die einen. Die anderen hielten dagegen: wie kann sich Wolfgang Wodarg erdreisten, die lebensrettende Corona-Politik in Frage zu stellen? Ist der denn überhaupt ein echter „Experte“? Auf die eine oder andere Art sahen sich die Menschen in Autoritätsverhältnisse hineingestellt, die sie nicht innerlich mittragen konnten. Dies verursachte die politische Krise, die von Anfang an Teil der Corona-Krise war. Rudolf Steiner nahm diese Entwicklung als notwendiges Schicksal des „Einheitsstaats“ vorweg und forderte demgegenüber echte Freiheit in dem Sinn, dass sich jede Position auf geistig-kulturellem Gebiet ausschließlich aus der freien Anerkennung derjenigen Menschen ergeben solle, auf welche die betreffende Persönlichkeit eben als Autorität wirken möchte.

Übertragen auf die Gegenwart hieße das: Soweit Menschen Christian Drosten Vertrauen schenken, reicht dessen Autorität. Soweit Menschen dagegen Wolfgang Wodarg vertrauen, reicht die seine. Die Forderung mancher Maßnahmen-Kritiker, die beiden Kontrahenten zum Streitgespräch in eine Talkshow einzuladen, weist in diese Richtung. Sie zeigt, dass in der Tat immer mehr Menschen die Notwendigkeit sehen, sich in ein freies und selbstbestimmtes Verhältnis zur wissenschaftlichen Autorität zu bringen. Gleichwohl greift diese Forderung noch zu kurz. Weshalb sollte man nämlich just jene beiden Wissenschaftler einladen? Die Hoffnung auf die Herstellung eines medialen „Debattenraums“ ist illusionär, weil sie am Ende des Prozesses der Autoritätsbildung ansetzt, in den der Staat von Anfang an durch seine Normierungen und Zertifizierungen eingeschaltet ist. Steiner spricht demgegenüber von etwas völlig anderem, nämlich davon, die Genese des Status als „Experte“ von staatlich-rechtlichen Prozessen abzukoppeln. Sämtliche Positionen im Geistesleben sollen von Anfang an, das heißt von der Gründung eines Kindergartens bis zur Errichtung einer Universität, nicht von staatlichen Normierungen und Berechtigungen, sondern von der freien Urteilskraft der betroffenen Menschen abhängen. Werden Rechtstitel wie z.B. „Abitur“, „Staatlich geprüfter Erzieher“, „Master der Virologie“ oder „Doktor der Medizin“ abgeschafft, dann kann auch nicht mehr der Staat, sondern allein der praktische Erfolg die gesellschaftliche Stellung eines Menschen bestimmen. Erzieher ist dann, wer dieses gegenüber Kindern und Eltern tagtäglich unter Beweis stellt; Arzt, wer die Anerkennung genesener Patienten gewinnt, und so weiter.

Vielfalt statt Monokultur

Das Konkurrenz-Prinzip, das im Wirtschaftsleben Fehl am Platz sei, gehöre ins Geistes- und Kulturleben, so Rudolf Steiner. Dieses verfalle jedoch gerade unter dem Einfluß einer Konkurrenz-Wirtschaft zunehmend einem geistigen Sozialismus. Deshalb findet er, man müsse „den radikalen ersten Entschluss“ fassen, das Geistesleben „wirklich zu entreißen dem Staatsleben.“ Nur so könne dafür gesorgt werde, dass die geistig-kulturelle Produktion der Menschen „in völlig freie Konkurrenz gestellt ist, daß es auf keinem Staatsmonopol beruht, daß dasjenige, was das geistige Leben als Geltung sich verschafft bei den Menschen … daß das auf völlig freier Konkurrenz, auf völlig freiem Entgegenkommen den Bedürfnissen der Allgemeinheit einzig und allein sich offenbaren kann …“. Denn berechtigt sei auf wissenschaftlichem, kulturellem und religiösem Gebiet „allein das, was die anderen Menschen miterleben wollen mit der einzelnen menschlichen Individualität.“[16]

Freies Geistesleben bedeutet jedoch nicht, dass man experimentieren und vorhandenes Wissen ignorieren soll. Vielmehr schließen sich beispielsweise Ärzte, die von ihren Patienten hierzu berufen sind, zu „Korporationen“ zusammen. Diese stellen dann wiederum ihre Besten für Lehre und Forschung frei. Wird sie so von unten herauf gebaut, wurzelt letztendlich auch die Universität in freien Anerkennungsverhältnissen und muss vor der praktischen Erfahrung bestehen. Selbstverständlich können die „Korporationen“ des Geisteslebens eigene Qualitätskriterien aufstellen und angehende „Experten“ zertifizieren. Nur sind solche Zertifikate dann keine staatliche „Zulassungen“ mehr, sondern freilassende Beurteilungen, die in Konkurrenz mit den Kriterien anderen Korporationen treten. Die Menschen werden den durch eine bestimmte Korporation zertifizierten Arzt aufsuchen, sofern diese erfahrungsgemäß für hohe Qualität steht. Weil jedoch nicht mehr der Staat normiert und genehmigt, haben sie gleichwohl jederzeit das Recht, sich gegebenenfalls auch von einem andere Arzt behandeln zu lassen bzw. einen anderen Menschen für sich zum „Arzt“ zu ernennen. Darauf kommt es an.

Pflicht oder Recht?

Die Argumentation der Gegner der Freiheit ist heute genau dieselbe wie vor hundert Jahren. Als Rudolf Steiner die Abschaffung der Schulpflicht forderte, behauptete man, ohne Staatszwang würden viele Eltern ihre Kinder lieber zur Arbeit aufs Feld statt zur Schule schicken. Rudolf Steiner antwortete: „Was ich gesagt habe, berührte ja gar nicht diese äußerliche Frage des In-die-Schule-Schickens der Kinder oder nicht. In meinem Buche „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ spreche ich von einem Recht auf Erziehung, das das Kind hat, und für das sogar im künftigen Staatswesen wird ein entsprechender Erziehungsbeitrag zu geben sein vom zukünftigen Wirtschaftsleben. Also, ich spreche nicht davon, daß der Schulzwang als lästig empfunden wird von solchen Eltern, welche die Kinder nicht in die Schule schicken wollen, sondern lieber aufs Feld, sondern ich spreche davon, daß das Kind im gesunden sozialen Organismus ein Recht hat auf Erziehung. Nun könnte man sagen: […] Wenn dieses Recht auf Erziehung des Kindes geltend gemacht wird, dann werden die Eltern die Kinder in die Schule schicken müssen, dann kann man meinetwillen auch den Schulzwang lassen. Aber das hat nichts zu tun mit dem Auf-sich-selbst-Stellen des Geisteslebens, hat nichts zu tun mit dem, was in den Schulen getan wird, mit der Verwaltung des Schulwesens. Neulich habe ich einmal die Frage folgendermaßen beantwortet: Wenn man keinen Schulzwang hat, wenn (stattdessen) das Recht auf Erziehung besteht, kann man sogar androhen, daß man bei denjenigen Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken wollen, einen Erziehungsvormund für das Kind einsetzt, der das Recht des Kindes auf Erziehung bei den Eltern vertritt; dann werden sie die Kinder hübsch in die Schule schicken. Diese Nebenfragen lassen sich nämlich alle beantworten, wenn man nur den guten Willen hat, wirklich die Hauptfrage zu verstehen: was alles davon abhängt, daß das Geistesleben in freier Weise auf sich selbst gestellt wird.“[17]

Was einer unscharfen Beobachtung als Haarspalterei erscheinen mag, ist in Rudolf Steiners Augen ein Kernpunkt der sozialen Frage. Besteht Schulpflicht, muss der Staat notwendig auch definieren, was „Schule“ ist, und so auch alles damit Zusammenhängende. Dann erhält man im Ergebnis das heutige Bildungssystem. Schützt der Staat dagegen das Recht des Kindes auf Bildung, so muss er deswegen nicht notwendigerweise auch den Begriff von „Bildung“ definieren und die vom Kind zu erreichenden Kompetenzen, die Zulassungsvoraussetzungen für Hochschulen oder die Qualifikation von Pädagogen festlegen. Er kann gegen die Eltern vorgehen und einen Erziehungsvormund einsetzen, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist – ohne deshalb durch Schulgesetze, Lehrpläne oder Prüfung der Lehrer zu definieren, wie genau für das Wohl zu sorgen ist. Dies obliegt in einem freien Geistesleben vielmehr den betreffenden Korporationen, welche dann auch jenen Erziehungsvormund stellen.

Stresstest für die Freiheit

Der Unterschied zwischen Pflicht und Recht ist genauso wenig eine Haarspalterei wie der Unterschied zwischen Staats- und Rechtsanwalt. Könnte man diesen Unterschied aber auch dann noch machen, wenn es um die Volksgesundheit oder gar um Leben und Tod von Kindern geht? Die öffentlichkeitswirksam ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen Behörden und „selbsternannten“ Experten scheinen immer wieder aufs neue zu beweisen, dass diese Frage eindeutig verneint werden muss. In das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat sich insbesondere der Skandal um Ryke Geerd Hamer. Der Wunderheiler soll indirekt für den Tod von 80 Patienten verantwortlich sein, weil diese auf seine unwirksame Behandlungsmethode vertrauten. Im Jahr 1986 verlor der Erfinder der „Neuen Germanischen Medizin“ seine Approbation als Arzt. Das Verwaltungsgericht Koblenz merkte an, dass Hamer aufgrund der „Schwäche seiner geistigen Kräfte, wegen Unzuverlässigkeit und wegen seiner psychopathologischen Persönlichkeitsstruktur“ nicht in der Lage sei, den Arztberuf auszuüben. Doch der rechtsradikale Medizinmann machte weiter. Internationale Bekanntheit erreichte er dann 1995 durch den Fall der sechsjährigen Olivia Pilhar. Die Eltern entzogen das krebskranke Mädchen durch Flucht ins Ausland der Chemotherapie – offenbar auf Anraten Hamers. In Spanien konnten sie schließlich gefasst werden. Ryke Geerd Hamer und Olivias Eltern wurden verurteilt, das Mädchen mit Polizeigewalt der schulmedizinischen Behandlung zugeführt. Sie überlebte.[18]

Extremfälle wie dieser scheinen zu beweisen, dass die Idee eines freien Geisteslebens nicht durchführbar ist. Wenn es nämlich keine staatlich „anerkannte“ Medizin und somit auch keine Approbation gäbe, die verliehen oder entzogen werden könnte, wie sollte man dann die Menschheit vor Wunderheilern schützen? Wäre die sechsjährige Olivia dann nicht zum Tode verurteilt gewesen? Tatsächlich beweist jedoch gerade dieses Beispiel das Gegenteil.

Verlust der Vertrauensbasis

Zunächst steht die Entmündigung der Eltern Olivias, wie hier am Beispiel der Schulpflicht gezeigt wurde, nicht in einem Widerspruch zur Idee, das Gesundheitswesen von politischer und wirtschaftlicher Bevormundung zu befreien. Die Rechte des Mädchens zu schützen wäre auch in einem freien Geistesleben möglich – vermutlich aber gar nicht nötig gewesen. Olivias Eltern waren nämlich von Anfang an mit der Operation einverstanden. Zweifel hatten sie jedoch an der vorherigen mehrwöchigen Chemotherapie und insbesondere der Vergabe von Doxorubicin. Das Kinderkrankenhaus lehnte jedoch eine Operation ohne begleitende Chemotherapie ab, und auch alle anderen konsultierten Schulmediziner zeigten Unverständnis für die Bedenken der Pilhars. Das grundsätzliche Misstrauen der Eltern wurde durch die Tatsache verstärkt, dass der Familienminister Martin Bartenstein, der später die Zwangstherapie des Mädchens anordnete, zugleich auch Präsident der Kinderkrebshilfe sowie Inhaber und Geschäftsführer mehrerer Pharmaunternehmen war – darunter nach Angaben des Vaters auch der Hersteller des bei Olivia verwendeten Chemopräparats Doxorubicin. Tatsache ist jedenfalls, dass sich kurz zuvor der „Unvereinbarkeitsausschuss“ des österreichischen Parlaments mit den Pharma-Geschäften des Ministers befasst hatte, woraufhin Bartenstein – wenigstens formell – seine Geschäftsführertätigkeit bei den fraglichen Konzernen niederlegen musste.[19]

Acht Jahre später begann die deutsche Krebshilfe, die pauschale Vergabe von Doxorubicin zu hinterfragen. Bei 3% der damit behandelten Kinder ließ nämlich die Schlagkraft des Herzens nach, und einige benötigten gar eine Herztransplantation.[20] Im Jahr 2015 belegte dann eine Langzeitstudie, dass Doxorubicin die Heilungschancen bei der Art von Nierenkrebs, wie er bei Olivia Pilhar diagnostiziert wurde, nicht erhöht, dafür aber bei 5% der Kinder zu einer erheblich verringerten Lebenserwartung führt.[21]

Die Bilder von der Befreiung des todkranken Mädchens aus den Fängen ihrer vermeintlich verrückten Eltern gingen um die Welt. Die andere Seite der Geschichte wurde bis heute nicht erzählt. Aber sie muss mitberücksichtigt werden, wenn man verstehen will, wie die Pilhars auf den rechtsradikalen Wunderheiler hereinfallen konnten. In der Wahrnehmung der Eltern sollte Olivia in die Mühlen eines Konglomerats aus geistigen, wirtschaftlichen und politischen Interessen hineingezogen werden, das sich in völliger Unabhängigkeit von ihrer Urteilskraft konstituiert hatte und sich gegenüber ihren berechtigten Sorgen immun zeigte. Hamer dagegen hörte zu und zeigte Verständnis.

Sind Waldorfschulen Mumpitz?

Dass sich die Bedenken der Eltern im Nachhinein zumindest als nicht völlig unbegründet erwiesen, bedeutet freilich nicht, dass die Behandlung mit Doxorubicin aus damaliger Sicht falsch war. Vielleicht würden Schulmediziner bei derselben Anamnese auch heute genauso entscheiden. Und die Verstrickungen von Gesundheitswesen, Wirtschaft und Politik rechtfertigen selbstverständlich nicht im Umkehrschluss den Behandlungsansatz der „Neuen Germanischen Medizin“. Wohl aber wirft gerade auch die Geschichte der Pilhars wiederum ein grelles Licht auf die Frage nach den Formen der Autoritätsbildung, die einer Wissensgesellschaft angemessen sind. Wie ist das Geistesleben, einschließlich des Gesundheitswesens als einem seiner wichtigsten Zweige, zu organisieren, und wie sind seine Beziehungen zu Wirtschafts- und Rechtsleben zu bestimmen, damit ihm Vertrauen entgegengebracht werden kann?

Mit Gründung der ersten Waldorfschule im Jahr 1919 versuchte Rudolf Steiner ein Beispiel dafür zu geben, wie das Geistesleben auf seinen „eigenen Boden“ gestellt werden könnte. „Da gibt es kein Programm und keinen Lehrplan, sondern da gibt es den Lehrer mit seinem realen Können, nicht mit der Verordnung, wie viel er können soll. Man hat es mit dem wirklichen, realen Lehrer zu tun. Es ist noch immer besser, wenn man einen schlechteren wirklichen Lehrer ins Auge faßt, als wenn man einen ins Auge faßt, der einfach in der Verordnung drinnen steht, der nicht real ist“ erklärte Steiner den Grundgedanken.[22] Zu diesem Zeitpunkt war die Verstaatlichung des Geisteslebens allerdings erst im Entstehen begriffen. Steiner gab zu bedenken, dass die Gründung der Stuttgarter Waldorfschule nur Dank einer noch nicht geschlossenen „Lücke“ im Schulgesetz Baden-Württembergs möglich war. Als dann weitere Gründungsinitiativen entstanden, warnte er: „Alle die Schulen, die heute anderswo versucht werden, im Grunde ist es Mumpitz. Die müssen Lehrer haben, die geprüft sind. Es wird keine zweite Waldorfschule mehr gestattet unter den gegenwärtigen Verhältnissen.“[23] Einen Kompromiss zu schließen und sich doch von einer staatlich geprüften Qualifikation der Lehrer abhängig zu machen, schloß er kategorisch aus: „Wenn man sagt, wir könnten eine freie Schule errichten, könnten das aber nur erreichen, wenn wir staatlich abgestempelte Lehrer finden, so bezeugt das, daß man von der Sache nichts versteht. Denn das bedeutet nichts anderes als dieses, daß man stehenbleibt bei dem Alten und es nur im modernen Sinne auffrisiert, also den Leuten Sand in die Augen streut. Und dazu ist die Zeit zu ernst.“[24]

Sechs Jahre nach Gründung der Stuttgarter Waldorfschule starb Rudolf Steiner. Die Waldorfschulbewegung lebte fort – und wuchs. Bei Hitlers Machtergreifung 1933 existierten in Deutschland bereits 9 Waldorfschulen, zunächst als selbständige und voneinander unabhängige Einrichtungen. Die Nazis zwangen sie jedoch, sich in einem „Bund der Waldorfschulen“ zusammenzuschließen, um sie besser „gleichschalten“ zu können.[25] Trotzdem wurden zunächst weitere Jahrgänge, und schließlich die Waldorfschulen ganz verboten. Nach dem Krieg konnten sie wiedereröffnet werden, und insbesondere in den 80er Jahren erlebte die Waldorfpädagogik dann einen regelrechten Boom. Heute existieren weltweit 1.214 Waldorfschulen, davon 252 allein in Deutschland. Selbstverständlich stehen diese nun allesamt unter staatlicher Aufsicht und beschäftigen staatlich geprüfte Lehrer. In den Beziehungen untereinander gelang es ihnen jedoch bis vor wenigen Jahren, dem Prinzip eines freien Geisteslebens sehr nahe zu kommen. Der von den Nazis erzwungene Bund wurde wiederbelebt und bewusst in sein Gegenteil verkehrt. Statt dem Staat einen zentralen Durchgriff zu bieten, sollte der „Bund der Freien Waldorfschulen“ nun die Interessen autonomer Schulen gegenüber Öffentlichkeit und Staatsgewalt vertreten. Erfahrene Lehrer wurden abberufen, um angehende Lehrer auszubilden. So entstanden eigene Seminare und Hochschulen, die von allen Waldorfschulen finanziell mitgetragen wurden. Wer ein „Waldorfdiplom“ erwarb, konnte nachweisen, dass er von praxiserfahrenen Waldorfpädagogen für fähig befunden wurde. Nicht mehr und nicht weniger.

Gespenster der Vergangenheit

Während man also einerseits die staatlichen Normierungen hinnahm, baute man andererseits Strukturen im Sinne eines freien Geisteslebens auf und stellte sie der staatlichen Bildungsverwaltung entgegen. Doch jetzt dreht sich der Wind. Immer unverhohlener möchte der Bund wieder, mit dem Staat im Rücken, in die Schulen hineinwirken. Zugleich geht er juristisch gegen alle vor, die zu ihm in Konkurrenz treten. Er allein, und niemand sonst, habe das staatlich verbriefte Recht, über die Verwendung des Namens „Rudolf Steiner“ oder „Waldorf“ zu entscheiden. Wer vom Bund als „Waldorfschule“ lizenziert werde, sei zudem verpflichtet, nur solche Lehrer zu beschäftigen, die wiederum durch seine Ausbildungsstätten gegangen sind. Der historische Versuch, ein Gegenbild zur staatlichen Organisation von Bildung zu schaffen, droht so in einer lächerlichen Imitation derselben zu enden.

Als Brandbeschleuniger fungiert auch hier Corona. Die Angst geht um. Davor, auf der „falschen“ Seite zu stehen, und sei es nur deshalb, weil man jemanden kennt, der nicht mehr zu den „Guten“ zählt. Eilig werden nun soziale Bindungen gekappt, denn Kontaktschuld vermeidet nur, wer Kontakt meidet. Christoph Hueck, Molekularbiologe und Dozent für Waldorfpädagogik an der Akanthos-Akademie, musste dies schmerzhaft erfahren. Die Medien verkürzten seine komplexen Gedanken zur Corona-Pandemie auf die Formel, ein starkes Immunsystem brauche keine Medizin. Dies veranlasste den Bund der Freien Waldorfschulen prompt zu einer Stellungnahme: Hueck sei nicht mehr in der Lehrerbildung tätig.[26] Das war eine offenkundige Falschbehauptung, denn Hueck bildet ja Lehrer aus. Doch der Bundesvorstand legte wenig später nach und behauptete, dass „ohne die Anerkennung und Lizenzierung eines Seminars durch den BdFWS eine Aus- und Weiterbildung zu Waldorflehrerinnen und -lehrern nicht möglich“ sei.[27] Diese zweite Behauptung sollte wohl die erste legitimieren, ist aber genauso unwahr. Schließlich ist der Begriff der Waldorfpädagogik inhaltlich weder an das Markenrecht des Bundes noch an eine staatliche Anerkennung geknüpft.

Jüngstes Opfer der Steiner-Monopolisten soll nun offenbar Axel Burkart werden. Die von ihm gegründete „Rudolf Steiner Holiversität“ bietet Seminare für Erkenntnistheorie an, und empfiehlt diese unter anderem auch Pädagogen. Jetzt erhielt Burkart eine teure Abmahnung mit der Aufforderung, den Namen seiner Einrichtung zu ändern. Der Bund alleine habe das Recht am Namen „Rudolf Steiner“ im pädagogischen Kontext. Zudem schrieb der Bundesvorstand alle Mitgliedseinrichtungen an und forderte sie auf, das Kollegium nicht über die Angebote Burkarts zu informieren. Waldorfpädagogen sind demnach nicht im Stande, sich selbst ein Urteil zu bilden. Damit verrät der Bund der Freien Waldorfschulen im Namen Rudolf Steiners den Namen Rudolf Steiners – unter dem Vorwand, ihn zu schützen. Das ist ein Treppenwitz der Geschichte, liegt aber im Trend der Zeit. *

Johannes Mosmann

Unfreiheit ist utopisch

Gegen die Freiheit führt der Bund denselben alten Einwand ins Feld, den auch die EU-Kommission bemüht, und der seit Menschengedenken die Institutionalisierung von Macht rechtfertigen soll: Freiheit ist gefährlich. Wenn die Menschen frei in der Auslegung von „Waldorfpädagogik“ sind, dann gründen sie vielleicht Nazi-Schulen? Und wenn sie ihre „Experten“ frei wählen dürfen, dann glauben sie am Ende noch dem Putin? Querdenker tragen keine Masken, trinken Bleichmittel und sind gegen Waffenlieferungen. Es soll sogar einmal ein NPD-Politiker eine Waldorfschule gegründet haben. Welche Beweise braucht es denn noch? Der Mensch ist dumm, gefährlich und zur Unfreiheit geboren. Man muss verhindern, dass er sich mit „Fake-News“ ansteckt und den schönen Waldorf-Betrieb schmutzig macht.

In Gänze erzählt, beweisen jedoch selbst extremste Geschichten wie die von Olivia Pilhar das Gegenteil dessen, für was sie von den Feinden der Freiheit instrumentalisiert werden. Sie beweisen nicht, dass das Bauen auf die freie Urteilskraft, sondern vielmehr, dass ihre Missachtung gefährlich ist. Dass der Antisemit Ryke Geerd Hamer über keine staatliche Approbation verfügte, schadete seiner Reputation keineswegs – ganz im Gegenteil. Die Approbation stand in den Augen von Olivias Eltern für ein Gesundheitssystem, das sich von politischen und wirtschaftlichen Interessen abhängig machte. Hamer dagegen sprach für sich selbst. Ihm und seinesgleichen kann nur dadurch der Boden entzogen werden, dass das Geistesleben auf seine eigenen Füße gestellt und deshalb wieder als authentisch erlebt wird. Nicht anders verhält es sich aber mit den vielen anderen, teils amüsanten, teils gruseligen Beispielen für „selbsternanntes“ Quer- oder Freidenken, die dem Volk tagtäglich zur Abschreckung vorgeführt werden.

Man könnte alle erdenklichen Abirrungen einmal durchdeklinieren, und käme doch stets auf dasselbe: Diese sind selbst die stärksten Gründe für ein freies Geistesleben. Jeder Mensch fordert nämlich heute, unabhängig von seiner „Kompetenz“ in irgendeiner Sachfrage, Freiheit. Davon mag man halten, was man will – es bleibt das fundamentale Faktum, mit dem jegliche soziale Ordnung rechnen muss. Ob man darin das Morgengrauen einer spirituellen Höherentwicklung oder nur blanken Egoismus sehen möchte, interessiert die Tatsachen nicht. Unterdrückte Freiheitsimpulse werden von Demagogen missbraucht, kanalisieren sich in radikalen Strömungen und entladen sich schließlich in Gewalt. „Wer einen Wert absolut setzt, und sei es die Gesundheit, der er angeblich dient, um damit alle relevanten Grund- und Freiheitsrechte auszuhebeln, hat den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlassen!“ Diese Mahnung stammt nicht etwa von einer etablierten „Volkspartei“, sondern von Björn Höcke, der sich dank der Steilvorlage der Bundesregierung nun als Freiheitskämpfer gebaren und ein glänzendes Comeback hinlegen kann.

Bei den diesjährigen Landtagswahlen in Niedersachsen, eigentlich eines der schwächsten Bundesländer für die Rechtspopulisten, konnte die AfD ihr Ergebnis bereits verdoppeln. Was uns nach exzessivem Corona-Leugner- und Putin-Versteher-Bashing nun bei den Landtagswahlen in den Hochburgen der „Alternative für Deutschland“ bevorsteht, lassen die Parlamentswahlen in anderen EU-Mitgliedsstaaten erahnen: In Schweden holten die Ultrarechten dieses Jahr überraschend 21%, in Frankreich verfehlten sie mit 42% nur knapp den Regierungsauftrag, und in Italien bilden sie mit 44% nun die stärkste Kraft. Doch auch innerhalb der Waldorfschulbewegung nehmen analog zur scheinbaren Konsolidierung einer Zentralmacht Phänomene wie Radikalisierung, Re-Regionalisierung und Verselbständigung von Splitterbewegungen zu. Konsens kann nunmal nicht durch Unterdrückung oder Ausgrenzung Andersdenkender erzeugt werden. Vielmehr wirkt dann das Gesetz von Polarisierung und Steigerung, in negativer Umkehr. Die Marschrichtung des Bundes der Freien Waldorfschulen führt deshalb, falls sie nicht noch rechtzeitig eine Korrektur erfährt, zur eigenen Auflösung, die der EU-Kommission zum Zerfall der europäischen Gemeinschaft.

Das große Wir-Gefühl

Wer nur soweit Freiheit will, als er sich selbst oder den eigenen Betrieb nicht in Gefahr bringt, war tatsächlich noch niemals frei. Das neuerliche Agitieren des Bundes der Freien Waldorfschulen gegen Andersdenkende im Namen der „Marke“ Rudolf Steiner ist also eine Selbstoffenbarung, wenn auch eine unfreiwillige. Den Bestandsschutz für das Gewordene, seine wirtschaftliche, rechtliche und geistige Absicherung, die Gemütlichkeit der gewohnten Behausung, das ungehinderte Fortrollen der eigenen Neigungen – das verwechselt derjenige mit „Freiheit“, der vor ihren realen oder eingebildeten Gefahren Halt macht.

Freiheit, zumindest in dem Sinn, wie der Gründer der ersten Waldorfschule sie verstand, beginnt mit dem Überschreiten der Grenze, die der Bund verteidigen möchte. Steiners Argument war nämlich niemals, dass ein freies Geistesleben bereits funktioniere oder gar ungefährlich sei. Ganz im Gegenteil. Er rief dazu auf, den riskanten Schritt in die Freiheit zu wagen, weil sich nur so die für eine Demokratie zwingend erforderlichen Fähigkeiten entwickeln können, darunter insbesondere die, sich ein wirklichkeitsgemäßes „Bild“ seines Nächsten zu machen. Er hatte recht damit. Die Freiheit selbst ist der Weg zur Überwindung jener Übel, die uns vor ihr schrecken sollen. Und zwar der einzige. Wenn die freie Urteilskraft jedes Menschen als konstitutiv für das Geistesleben erfahren wird, weil die freie Anerkennung von Mensch zu Mensch sämtliche geistigen Einrichtungen real, also auch wirtschaftlich, trägt, ist zugleich die Grundlage für gegenseitiges Vertrauen und damit für einen neuen, gesellschaftlichen Konsens geschaffen.

Nur scheinbar beweisen die Corona-Jahre das Gegenteil. Offenbar trug eine Mehrheit die Maßnahmen bereitwillig mit und erlebte dabei gar, wenn man entsprechenden Medienberichten glauben darf, ein neuartiges „Wir-Gefühl“. Tatsächlich aber verfügte die proklamierte „Solidaritätsgemeinschaft“ nie über den behaupteten Rückhalt einer „überwiegenden“ Mehrheit. Die öffentlich zur Schau gestellten „Corona-Leugner“ waren bloß die Spitze des Eisbergs, während ein weitaus größerer Teil der Bevölkerung der Demokratie durch die Missachtung seiner freien Urteilskraft nachhaltig „entfremdet“ wurde. Bereits im Juni 2021 ergab eine Allensbach-Umfrage, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung mittlerweile überzeugt ist, in Deutschland könne man die eigene Meinung nicht mehr frei äußern.[28]

Johannes Mosmann

Noch extremer gehen öffentlich behauptete und real existierende Mehrheitsverhältnisse nun in der Haltung zum Ukraine-Krieg auseinander: Laut Forsa-Umfrage ist die Mehrheit der Deutschen gegen Waffenlieferungen und für Verhandlungen mit Russland – zum Preis von Gebietsabtretungen.

Zum anderen ist die vielbeschworene „Solidarität“ der Maßnahmen-Befürworter mit sich selbst äußerst fragil. Was hält diese Gruppe nämlich zusammen? „Dies ist wie ein Weltkrieg, nur dass wir in diesem Fall alle auf der gleichen Seite sind“, brachte Bill Gates das gemeinschaftsbildende Prinzip der Corona-Politik auf den Punkt. Die Furcht ist also der Inhalt, der „Krieg“ gegen Corona und seine vermeintlichen Leugner der Kitt des neuen „Wir“. Ein durch gemeinsame Gegnerschaft simulierter Zusammenhalt bricht jedoch auseinander, wenn die gefühlte Bedrohung nachlässt. Als die Angst-Welle zum Jahreswechsel 21/22 spürbar an Schwung verlor, schien daher das Ende des so konstruierten „Konsens“ nahe. Dann aber griff Putin die Ukraine an und lieferte damit einen brauchbaren Ersatz. Der „Weltkrieg“ in unseren Köpfen konnte fortgeführt werden, die „Solidargemeinschaft“ hielt weiter zusammen. Nun spart, friert oder hungert sie, um den „Irren aus Moskau“ zu besiegen. Doch wie weit trägt uns die durch äußere Gegnerschaft geformte Zweckgemeinschaft noch – und was kommt danach?


* Nachtrag zur Öffentlichkeitsarbeit des Bundes (aktualisiert am 13.12.2022):

Der Fall Burkart ist das aktuellste Beispiel dafür, wie die vermeintliche Image-Pflege des Bundes allen Waldorfschulen schadet. Axel Burkart erweckte nämlich von sich aus niemals den Anschein, für „die“ Waldorfschulen zu sprechen, sondern gab sich vielmehr unzweifelhaft als selbständiger Anthroposoph und Steiner-Interpret zu erkennen. Auch die Medien stellten ihn bislang weder als rechtsradikal, noch als repräsentativ für „die“ Waldorfschulen hin – sie interessierten sich nicht mal besonders für ihn. Nachdem der Bund der Freien Waldorfschulen nun jedoch vor Burkart warnte und ihn zugleich juristisch angriff, untersagte die Anthroposophische Gesellschaft in Stuttgart die Nutzung ihrer Räume für eine geplante Abendveranstaltung mit Burkart. „Hintergrund ist, wie uns in den letzten Wochen bekannt wurde, dass Axel Burkarts Thesen in seinen teilweise öffentlich zugänglichen Videos sehr kontrovers diskutiert werden“, erklärt das Rudolf Steiner Haus auf seiner Webseite. Die Veranstaltung berge „das Potential, dass Herr Burkarts Positionen als diejenigen der Anthroposophischen Gesellschaft insgesamt interpretiert werden könnten.“ Die Absage führte in der Presse dann zu Schlagzeilen wie der Folgenden:

„Hat die Anthroposophie eine offene Flanke nach rechts? Wieder einmal muss sich die Waldorfszene mit der Frage der Abgrenzung zum Rechtsextremismus befassen. Anlass ist eine Veranstaltung, die am kommenden Freitag im Rudolf-Steiner-Haus auf dem Campusgelände an der Stuttgarter Uhlandshöhe stattfinden sollte. Der Buchautor und Esoteriker Axel Burkart sollte dort auf Einladung der Anthroposophischen Gesellschaft (AG) Stuttgart über „Die spirituellen Hintergründe des aktuellen Zeitgeschehens“ sprechen. Am Samstag wollte er die Erkenntnisse in einem Tagesseminar vertiefen. Kurzfristig wurden beide Veranstaltungen am Mittwochmorgen nun abgesagt. Ausschlaggebend dürfte dafür ein am Dienstag eilends verfasster Brief der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) der Freien Waldorfschulen gewesen sein.“[29]

Jetzt haben „die“ Waldorfschulen in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit wieder ein Problem mit Rechtsradikalismus. Nicht Axel Burkart, sondern die vom Bund der Freien Waldorfschulen initiierte hysterische Distanzierungs-Welle bewirkte hier letztendlich die Verknüpfung von „Rechtsradikalismus“ und „Waldorfpädagogik“. Die Stuttgarter Zeitung führt als Beleg für Burkarts rechte Gesinnung sogar an: „Im weit verbreiteten Waldorf-Magazin „Erziehungskunst“ wird er (Axel Burkart) als Vertreter der Neuen Rechten einsortiert.“

Diese „Strategie“, sofern man das so nennen möchte, verfolgt die gemeinsame Vertretung der Waldorfschulen schon seit Jahren. Das, und nicht etwa unglückliche Äußerungen einzelner Anthroposophen, verursachte seither im Wesentlichen die entsprechende Wahrnehmung der Waldorfschulen. Wenn aber dies der praktische Effekt von Namens-Rechthaberei, Distanzierung und Cancel Culture ist, dann ist der ganze Zauber eben doch nicht den Notwendigkeiten der Öffentlichkeitsarbeit geschuldet. Dann liegen die Ursachen wo ganz anders.

Überdies vermengt auch diese „Öffentlichkeitsarbeit“ wiederum Waldorfpädagogik und Anthroposophie. Wie will man glaubhaft machen, Waldorfschulen seien keine Anthroposophen-Schulen, wenn der Bund der freien Waldorfschulen die Anthroposophische Gesellschaft anweisen kann, einen Vortragsredner wieder auszuladen?

Die Anthroposophische Gesellschaft behauptet zwar, der Einfluß des Waldorfschul-Verbandes habe sich auf bloße „Empfehlungen“ beschränkt. Das alleine wäre problematisch genug. Die Erklärung der LAG gegenüber ihren Mitgliedseinrichtungen klingt gleichwohl anders: „Die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Waldorfschulen in Baden-Württemberg e.V. (LAG BW) hat zeitintensiv mit viel Aufwand darauf hingearbeitet, dass die Anthroposophische Gesellschaft Stuttgart (AGS), die für Freitag, 09.12.22 geplante Veranstaltung mit Axel Burkart absagt.“ Tatsächlich schrieb die LAG an die Anthroposophische Gesellschaft: „Die von Ihnen geplante Veranstaltung ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die für eine klare Abgrenzung gegenüber rechten und rechtsradikalen Kreisen eintreten. Mit einer solchen Veranstaltung wird der Öffentlichkeit gezeigt, dass sich rechtes Gedankengut und Anthroposophie scheinbar gut vereinbaren lassen. Dem widersprechen wir entschieden. Es bleibt aus dieser Sicht nur ein Schritt: Sagen Sie diese Veranstaltung sofort ab und distanzieren Sie sich von den Inhalten, die dem rechten und rechtsradikalen Milieu zuzuordnen sind.“[30]

Das ist weit mehr als eine „Empfehlung“. Und es macht unverkennbar deutlich, dass der Waldorfschulverband hier nicht für eine pädagogische Richtung, sondern für die Anthroposophie spricht: „Mit einer solchen Veranstaltung wird der Öffentlichkeit gezeigt, dass sich rechtes Gedankengut und Anthroposophie scheinbar gut vereinbaren lassen. Dem widersprechen wir entschieden.“ Umgekehrt scheint auch die Anthroposophische Gesellschaft kein Problem damit zu haben, vom Rechteinhaber des Namens „Rudolf Steiner“ gegängelt zu werden. Es wächst also zusammen, was offenbar doch zusammengehört.

Zum Beweis für die rechte Gesinnung Axel Burkarts zitiert der LAG-Vorstand übrigens ausschließlich waldorfnahe Publikationen, etwa die hierfür vielfach kritisierte Ausgabe der Erziehungskunst zum Thema „Klare Kante gegen Rechts.“

Johannes Mosmann

Doch es kommt noch dicker. Denn der Bund der Freien Waldorfschulen muss nun die von ihm losgetretene negative PR wieder einfangen. Blöderweise weiß die Stuttgarter Zeitung jedoch über Axel Burkart, außerdem, dass er zu den „Neurechten“ gehören soll, noch zu berichten: „Burkart hält die staatliche Schulaufsicht ohnehin für ein Übel.“ Dazu nimmt die Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen, der auch die LAG angehört, wie folgt Stellung: „Die staatliche Schulaufsicht, wie der vorgesehene Referent der Anthroposophischen Gesellschaft sie offenbar grundsätzlich in Frage stellt, ist für die freien Schulträger seit vielen Jahren eine selbstverständliche Bedingung für die Errichtung und den Betrieb ihrer Bildungseinrichtungen.“ Unumstößlich seien für freie Schulträger „Grundlagen wie die geltenden Bildungspläne, insbesondere hinsichtlich deren gesellschaftspolitischen Leitperspektiven“.[31]

Ich bezahle Einkommenssteuer, obwohl ich der Auffassung bin, dass alle Steuern über den Konsum abgeführt werden sollten. Solange ich niemanden für diese Überzeugung erschieße, sondern lediglich den öffentlichen Diskurs über das bestmögliche Steuersystem suche, macht mich meine Meinung nicht zu einem Verfassungsfeind – ganz im Gegenteil. Genauso fügen sich die freien Waldorfschulen der staatlichen Schulaufsicht, ohne diese Tatsache deshalb richtig finden zu müssen. Der Bund der Freien Waldorfschulen hat es nun aber geschafft, dass sogar die Selbstverständlichkeit, in einer Demokratie anderer Meinung sein zu können, in Zusammenhang mit Rechtsradikalismus gebracht wird – und muss sich deshalb jetzt auch in dieser Hinsicht distanzieren: „Nele Auschra, Vorstandsmitglied und Sprecherin, bekräftigt: ‚Waldorfschulen als anerkannte Schulen in freier Trägerschaft verstehen sich selbstverständlich als Teil der deutschen Schullandschaft – und das ist gut und richtig so!‘ Schulen in freier Trägerschaft ergänzen und diversifizieren das Angebot an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland. Sie unterliegen in rechtlicher Hinsicht der staatlichen Schulaufsicht, haben jedoch die grundgesetzlich verbriefe Freiheit, einen eigenen pädagogischen Ansatz zu verfolgen und ihre Unterrichtsgestaltung diesem anzupassen.“[32]

Wer diese Stellungnahme des Bundes der Freien Waldorfschulen als Bekenntnis zur Freiheit liest, übersieht den Kontext. Der Bund antwortet hier auf die Stuttgarter Zeitung. Der Hinweis auf die „verbriefte Freiheit“ einen „eigenen pädagogischen Ansatz“ verfolgen zu dürfen, bewegt sich innerhalb eines gegen die Idee eines freien Bildungswesens gerichteten Narrativs – das kurioserweise der Bund selbst ins Spiel brachte. Tatsächlich bekennt sich der Bund hier ohne Einschränkung zur staatlichen Schulaufsicht. Denn diese erstreckt sich „in rechtlicher Hinsicht“ eben keineswegs nur auf selbstverständliche „Rechte“ wie z.B. dem Schutz der Schüler vor Gewalt, sondern auch auf pädagogische Inhalte, Qualifikationen, Bewertungsmaßstäbe und Abschlüsse. Das zu kritisieren, ist eine klassisch liberale Position – und die tatsächliche Bedeutung des Wörtchens „frei“ im Ausdruck „freie Waldorfschule“. Die PR-Aktion des Bundes rückt jedoch das Humboldtsche Bildungsideal in die Nähe demokratie- und verfassungsfeindlicher Ideologien – und das vor dem Hintergrund des aktuellen Medienrummels um die Razzien bei Reichsbürgern. „Freies Geistesleben“ klingt ab sofort irgendwie staatsfeindlich und weckt Assoziationen an Umsturz-Phantasien.

Es sollte aus dem Kontext ohne Weiteres klar sein, dass ich nicht die Positionen von Axel Burkart verteidige, sondern lediglich finde, er sollte Rudolf Steiner interpretieren dürfen, wie er möchte, und das auch im Vereinsnamen sichtbar machen können. Gerade in der Auslegung von Anthroposophie und Waldorfpädagogik wünsche ich mir freie Konkurrenz statt Monokultur und Konservatismus. Und das ist ein weiterer schädlicher Effekt dieser Art von „Öffentlichkeitsarbeit“: Indem der Bund der Freien Waldorfschulen gegen Andersdenkende vorgeht, werde ich, so wie viele andere, genötigt, für diese Menschen einzustehen, obwohl ich mich unter anderen Umständen mit ihnen streiten würde – weil das Bekenntnis zur Freiheit, wie oben gezeigt wurde, eben die Grundvoraussetzung der Waldorfpädagogik ist. Der Bund hat offenbar verstanden, wie Spaltung und Polarisierung funktioniert. Ich bezweifle jedoch stark, dass er die Folgen dieser „Politik“ überblickt.

Johannes Mosmann, Dezember 2022

Weiterführende Literatur vom Autor:

Anmerkungen

[1https://www.dw.com/de/einstein-in-china-rassismus-eines-genies/a-44223640

[2https://www.youtube.com/watch?v=UlzP2NPNEgE

[3https://www.youtube.com/watch?v=MaYdgxXmM4s

[4https://www.dreigliederung.de/themen/assoziation

[5] „Vor allem aber würde ich nie anthroposophische Schulen gründen. Anthroposophen müssen die Methoden und die Organisation umgestalten, aber niemals Anthroposophie lehren. Als Erstes müssen wir verstehen, was geistige Freiheit ist. Weltanschauungsschulen müssen wir am meisten vermeiden.“ Rudolf Steiner, GA 332b S. 94

[6] Vergl.: Johannes Mosmann: Was ist eine freie Schule? Verlag am Institut für soziale Dreigliederung, Berlin 2015

[7https://norberthaering.de/propaganda-zensur/mosmamm-meinungsfreiheit/

[8https://www.dreigliederung.de/essays/2022-11-johannes-mosmann-kindersoldaten-im-wahrheitskrieg-der-eu

[9https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/SPEECH_20_1036

[10] Ebd.

[11] Vergl. „Das Geheimnis der Macht“, Die Drei 2020/6. https://diedrei.org/files/media/hefte/2020/Heft6-2020/05-Mosmann-Demokratie-V-DD_2006.pdf

[12] Alexander Rüstow, Ansprache auf dem Walter-Lippmann-Kolloquium vom 29. August 1938, enthalten in „Neoliberalismus“ von Serge Audier, Hamburg 2019. https://kursbuch.online/shop/serge-audier-jurgen-reinhoudt-neoliberalismus-wie-alles-anfing-das-walter-lippmann-colloquium/

[13] Ebd., S. 43

[14] Johannes Mosmann: Was ist eine freie Schule? Verlag am Institut für soziale Dreigliederung, Berlin 2015

[15] GA 338, S. 154

[16] Rudolf Steiner: GA 328, S. 63

[17] Rudolf Steiner: GA 330, S. 321

[18https://de.wikipedia.org/wiki/Ryke_Geerd_Hamer

[19] Ich verzichte hier auf die Verlinkung der von Olivia Pilhars Vater angegeben Quellen. Die Stenographie einer nachfolgenden Parlamentssitzung bestätigt jedoch seine Angaben: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XIX/NRSITZ/NRSITZ_00052/imfname_141783.pdf

[20https://idw-online.de/de/news66691

[21https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/63500/Wilms-Tumor-Chemotherapie-ohne-Doxorubicin-vermeidet-Kardiotoxitaet

[22] Rudolf Steiner: GA 338, S. 125. Enthalten in: Johannes Mosmann: Was ist eine freie Schule? Verlag am Institut für soziale Dreigliederung, Berlin 2015

[23] GA 300c, S. 49. Enthalten in: Johannes Mosmann: Was ist eine freie Schule? Verlag am Institut für soziale Dreigliederung, Berlin 2015

[24] GA 338, S. 186. Enthalten in: Johannes Mosmann: Was ist eine freie Schule? Verlag am Institut für soziale Dreigliederung, Berlin 2015

[25] Vergl. Peter Selg: Zivilcourage – Die Herausforderung freier Waldorfschulen. In: Anthroposophische Vorträge, Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2020

[26https://www.waldorfschule.de/artikel/coronamythen-starkes-immunsystem-genuegt-nicht

[27https://www.erziehungskunst.de/artikel/qualifizierte-lehreraus-und-weiterbildung-im-bund-der-freien-waldorfschulen/

[28https://www.deutschlandfunkkultur.de/allensbach-umfrage-zur-meinungsfreiheit-heute-gibt-es-100.html

[29https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.aerger-um-rechtsesoteriker-axel-burkart-heftiger-richtungsstreit-in-der-stuttgarter-waldorfszene.f0ada50f-9687-4ffd-9be5-286967fe7053.html

[30https://nvb247.n3cdn1.secureserver.net/wp-content/uploads/2022/12/Burkart_Brief_AG-3.pdf

[31https://nvb247.n3cdn1.secureserver.net/wp-content/uploads/2022/12/221209-Zumeldung-der-AGFS.pdf

[32https://www.waldorfschule.de/artikel/stuttgarter-zeitung-heftiger-richtungsstreit


Sharing is caring:

Schreibe den ersten Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert