Chris Stolle: „Gemeinsam ein Konzept von Freiheit ergründen“

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Folgendes Interview erschien als „Wer ist das Volk?“ im Nexus Magazin in der Oktober-Ausgabe 2020. Interviewt wird Chris Stolle, ein Leipziger Aktivist und Buchautor. Chris ist im Social.is.dancing Netzwerk und gern gesehener Redner bei uns.

Christian Stolle aus Leipzig 

Zwei Großdemos in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen haben weltweite Aufmerksamkeit erregt und ein Medienecho verursacht, das, nun ja, zu erwarten war. Doch wer war da eigentlich alles auf der Straße? Und geht es wirklich nur um Corona? Der Versuch einer Einordnung.I

Interviewer Daniel Wagner (DW): Chris, lass mich dich kurz vorstellen. Ich habe dich als auffällig klaren Menschen kennengelernt, der einem inneren Plan zu folgen scheint. Einen Abriss deines Lebens und wie sich dieser Plan für dich manifestiert hat, hast du im Vorwort des ersten Teils deiner Trilogie „Generation Mensch“ aufgeschrieben, in dem du nichts weniger als den gegenwärtigen Zustand der Welt analysierst. Viele der Abgründe, die du in deinem Buch teils bis in die letzte Ecke beleuchtest, werden unseren Lesern bekannt sein: das Fiatgeld, die Korporatokratie und die Manipulation der Massen über die Medien. Mich interessieren vor allem die Lösungsansätze, die zwischen den Zeilen immer wieder durchscheinen. Ein paar davon hattest du ja schon in deinen Artikeln in den Heften 64 und 65 dargestellt. Du bezeichnest dich als Libertärer, und ich muss sagen, dass mich dein Buch und dein Auftreten neugierig auf diesen Ansatz gemacht haben. Allerdings hatte ich schon beim Lesen deines Buchs einige offene Fragen. Über all das will ich mit dir sprechen. Ein Grund ist, dass die gegenwärtige Situation recht unübersichtlich ist und sich sicher viele unsere Leser fragen, wo es gesellschaftlich hingehen soll. Du bist für mich ein geeigneter Gesprächspartner, der mir all das durchdacht zu haben scheint. Daher will ich mit dir eine Karte über den Stand der Dinge entwerfen, um danach vielleicht klarer sehen zu können, was noch vor uns liegt. Beginnen möchte ich im ersten Teil dieses Interviews mit der aktuellen Situation. Du warst ja wie ich auf den Großdemos am 1. und 29. August in Berlin, aber im Gegensatz zu mir bist du von Anfang an auf die viel kleineren Hygienedemos gegangen. Ich glaube, über den Grund, gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße zu gehen, brauchen wir nicht groß zu diskutieren. Mich würde vielmehr interessieren, was du seit den ersten Demos beobachtet hast. Für mich hat es den Anschein, als ginge es da um mehr als nur Corona – inzwischen sind da neben Friedensaktivisten, Hippies, Schülern und Ärzten auch QAnon-Anhänger, Reichsfahnenschwenker und Nationalisten auf der Straße. Schildere doch einmal deine persönlichen Erfahrungen: Wie waren so die ersten Demos? Wen hast du getroffen, wie war dein Eindruck? 

Christian Stolle (CS):

Was ich von Anfang an gesehen habe, war ein bunter Querschnitt der Gesellschaft. Alle einte der Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Corona-Maßnahmen. Das war auch mein Beweggrund, auf die Straße zu gehen.

Ein paar Tage vor der ersten Hygienedemo am 28. März hatte ich einen knapp einstündigen Podcast mit dem Titel „Die neue Corona-Weltordnung“ (https://youtu.be/YDh8EdUEXAU) veröffentlicht, in dem ich meine Recherchen zum Thema zusammenfasste. Es ging um die übertriebenen Gefahren von Corona, reale Gefahren eines Lockdowns, Zensur und Polizeistaatstendenzen, Hintergründe zur WHO und Stellungnahmen von prominenten Denkfabriken, die eine Krise zur Neuordnung der Welt herbeisehnen. Interessanterweise hatte ich in dem Podcast sogar noch empfohlen, Masken zu tragen, weil mir das als einfaches und effektives Mittel schien, die Pandemie schneller hinter uns zu bringen. Als die Maskenpicht dann einen Monat später kam, war jedoch schon klar, dass sie nicht notwendig ist. Die Initiatoren der Hygienedemos in Berlin waren Anselm Lenz und Hendrik Sodenkamp von der „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“. Sie sehen sich ganz klar als Linke, kommen aus der Theaterszene – klassische intellektuelle Bildungsbürger, könnte man wohl sagen. Lenz hatte bis dahin für die taz geschrieben. Der Hintergrund der Initiatoren war also eindeutig links, dennoch kam direkt Widerstand von Antifa-Gruppen. Zum einen, weil die Antifa aus mir unerfindlichen Gründen die mediale und politische Panikmache zur Corona-Pandemie unkritisch wiederkäut und jeden zum Feind erklärt, der widerspricht. Zum anderen, weil auf den Hygienedemos auf dem Rosa-Luxemburg-Platz tatsächlich schon früh vereinzelte Vertreter der völkischen Szene auftauchten. Einer von ihnen war Nikolai Nerling, bekannt als der „Volkslehrer“. Er war mal Grundschullehrer, wurde aber 2018 entlassen, weil er auf YouTube und anscheinend auch in der Schule mit Holocaust-Revisionismus aufgefallen war. Abgesehen davon behandelt er viele Themen der Wahrheitsbewegung und zeigt ein besonderes Faible für Identitätspolitik in Bezug auf Rasse, Nation und Religion. Beispielsweise warnt er davor, Mischlingskinder in die Welt zu setzen. Als ich ihn auf dem Rosa-Luxemburg-Platz traf, konfrontierte ich ihn mit dieser Aussage. Ich fragte ihn, wie er zu dieser Ansicht kommt, und er sagte mir, Menschen von Eltern mit verschiedenen Hautfarben hätten ihm von ihren negativen Erfahrungen im Zusammenhang mit ihrem gemischten ethnischen Hintergrund berichtet, sie fühlten sich hin- und hergerissen und nirgends richtig zu Hause. Ich antwortete, vielleicht kann es sein, dass gerade diejenigen zu ihm kommen, die solche Probleme haben, weil sie wissen, dass er ihnen dankbar zuhören wird. Außerdem gibt es überall Menschen, die Probleme mit ihren Wurzeln haben, egal was diese Wurzeln sind. Wer keine Probleme damit hat, Multikulti-Eltern zu haben, wird wohl kaum auf ihn zugehen. Nerling ließ sich für mich doch etwas überraschend auf dieses Argument ein und sagte: „Das kann schon sein, ein Arzt kennt auch immer nur kranke Menschen.“ Nerling war jedoch nur einer von vielen Vertretern der alternativen Medien vor Ort. Während wir miteinander sprachen, saß neben uns Ken Jebsen von KenFM im Fliegerhelm meditierend auf dem Bus von Kai Stuht, der zur Meditation für das Grundgesetz aufgerufen hatte. Außerdem sah ich Carolin Matthie, Heiko Schrang, Michael Mross, eine Crew von eingeSCHENKt.tv, Aktivist Mann, meine Freunde von TimeForTruth TV und Martin Lejeune, der sich vor einigen Jahren mit anti-israelischen Äußerungen als Journalist im Mainstream unmöglich gemacht hatte und aktuell das umfangreichste Videoarchiv rund um die Demoszene in Berlin produziert. Weltanschaulich war also alles vertreten; Linke, Rechte, Libertäre, Esoteriker – Freidenker im weitesten Sinne, buchstäblich jenseits des Mainstreams, denn von den Mainstreammedien ließ sich nur selten jemand blicken. Diese ungeheure Dichte von Medienmachern aus der alternativen Szene und gut informierten, mutigen Demonstranten hatte etwas ganz Besonderes, das hat es in der Form wahrscheinlich noch nie gegeben. Eine interessante Dynamik entstand auch dadurch, dass die Polizei immer nur relativ wenige Menschen auf den Platz ließ, während die meisten Demonstranten auf den umliegenden Straßen bleiben mussten. Somit blieb auf dem Platz selbst viel Raum für Begegnungen und Gespräche – viele gingen ständig umher, um mit anderen Anwesenden zu sprechen. Das sah man übrigens nicht nur auf den Hygienedemos. Auf dem Mariannenplatz veranstaltete die antiautoritär-anarchistische „Aktion Eigensinn“ wiederholt eine Beerdigung des Grundgesetzes mit Open Mic, jeder konnte seinen Senf dazugeben. An vielen Orten in Berlin gab es Menschenketten, Tanzdemos und Flashmobs; etliche Organisationen wurden dazu neu gegründet, darunter Social.is.Dancing, die Corona-Rebellen und Captain Future. Auf diesen Veranstaltungen entstanden Gesprächskreise, die sich dann auch außerhalb der Demos trafen, um die aktuelle Situation auszuloten, über Maßnahmen zu beraten und sich gegenseitig kennenzulernen. Einigen gab das richtig Halt, da sie in ihrem Freundeskreis praktisch die einzigen Kritiker der Corona-Maßnahmen waren und dafür nicht gerade gefeiert wurden. 

DW: Was hat sich denn seit den ersten Demos verändert? 

CS: Die erste Massendemo gab es am 9. Mai auf dem Alexanderplatz. Irgendwie verlagerte sich das Geschehen rund um den Rosa-Luxemburg-Platz spontan zum Alex, angemeldet war da nichts – keine Ahnung, ob jemand das geplant hatte. Jedenfalls war der Alex plötzlich voller Demonstranten, einige kletterten auf den Brunnen der Völkerverständigung, die Polizei schien überfordert. Einer auf dem Brunnen hisste eine Deutschlandagge und schon stand in den Medien was von Rechten, allerdings hatte ich genau den Typen vorher am Rosa-Luxemburg-Platz interviewt. Auf die Flagge angesprochen meinte er, er stehe für das Grundgesetz und für eine friedliche Vielfalt der Völker – er sei patriotisch, aber nicht nationalistisch. Zudem sehe er das Problem in der Gesellschaft nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen oben und unten. In der Woche drauf meldete Basti von TimeForTruth TV eine Demo auf dem Alex an, auf der ich auch gesprochen habe. Mit dabei waren Linke, Libertäre, Integrale – humanistische Kritiker der Corona-Maßnahmen. Dazu gab’s noch eine Gegendemo einer Antifa-Gruppe und eine Demo von Captain Future, der vor Corona vor allem in der Partyszene anzutreffen war. Jede dieser drei Demos Weltanschaulich war also alles vertreten; Linke, Rechte, musste ihren Bereich mit Flatterband absperren und nur 50 Leute durften sich innerhalb eines Bereichs aufhalten. Zudem sperrte die Polizei den Alex im Vorhinein ab und ließ während der Demos niemanden auf den Platz; man durfte den Platz nur noch verlassen, sodass wir als Veranstalter letztlich mit der Polizei allein waren, das war echt bizarr. Danach haben wir uns gesagt: Es ist sinnlos, vor einem leeren Platz zu sprechen. Lass uns lieber weniger prominente Orte suchen, die hoffentlich nicht so hermetisch abgeriegelt werden, und dort kleine Demos veranstalten, die dann aber zumindest jemanden erreichen. Das war der Auftakt für die Tanzdemos und Umzüge. Viele hielten jedoch an der Idee einer Großdemo fest, und so kam es erst zu Zusammenschlüssen von einzelnen Veranstaltungen und schließlich zur ersten Großdemo am 1. August. Du hast die Menschenmassen gesehen, das war schon echt Gänsehautstimmung. Ich hatte seit Ewigkeiten nicht mehr so viele lachende Gesichter gesehen. Als einzige Wermutstropfen empfand ich die Reichsaggen und das Q-Zeug.

DW: Ja, stimmt, die Gänsehaut vom 1. August, das hat noch Tage nachgewirkt. Man hatte das Gefühl, von irgendwas angezündet worden zu sein. Aber ich musste auch immer wieder an die skurrilen Szenen denken, die ich aufgeschnappt hatte. Wir sind am Rosenthaler Platz in den Zug hinein, und da standen an der Ampel gegenüber Maskierte, die die Mittelfinger in Richtung Demozug hoben, während sich drei Leute aus dem Zug lösten und sich ihnen auf der anderen Straßenseite entgegenstellten, ihre Arme über den Kopf hoben und mit den Fingern Herzen formten. Am Rand habe ich eine Familie mit vielleicht dreijährigem Kind auf dem Arm gesehen, das wie seine Eltern eine Maske trug – auf offener Straße! Das hat mich erschreckt, genau wegen so was war ich dort. Später kam dann noch so eine Ecke mit den Omas gegen Rechts und ihren SPD-Schildern, denen der ganze Zug ein „Nazis raus!“ entgegenbrüllte. Das war schon schräg. In welchen Zustand der kognitiven Dissonanz wir die wohl katapultiert hatten? Im Zug selbst ging einem aber voll das Herz auf – es war ein friedlicher Strom, ein Gefühl von Gemeinsamkeit. Selbst die Polizei hat einen in Ruhe gelassen, sogar am Nadelöhr Richtung Reichstag und Straße des 17. Juni. Und immer dachte ich: Wie viele sind das denn nun? Es hörte gar nicht mehr auf, selbst wenn ich eine halbe Stunde Pause machte. 

CS: Ja, ich fand es auch gut, dass so viele Menschen gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gingen. Je mehr Menschen jedoch zu den Demos kamen, desto mehr verlagerte sich der Fokus der einzelnen Teilnehmer auf das bloße Anwesendsein, um Teil einer Masse zu sein, während es zu Beginn der Demos noch mehr darum ging, selbst zu gestalten und aktiv das Gespräch mit anderen zu suchen, um sich kennenzulernen und weiterzubilden. Ein wichtiges Thema war zu Beginn, Gesprächskompetenz mit Andersdenkenden zu entwickeln, denn auch wenn die Demoteilnehmer ihre Kritik am Lockdown gemeinsam hatten, waren da weltanschaulich und auch sonst teilweise große Differenzen zwischen den Einzelnen. In den Gesprächskreisen ging es somit neben Corona auch um Reaktanz, um gewaltfreie Kommunikation und Ähnliches. Ich fand es beeindruckend und erfreulich, mit welchem Einsatz alle dabei waren. Leider ist dieses individuelle Engagement bei der Großdemo in den Hintergrund gerückt. 

DW: Das Gefühl, in diesem Strom unterwegs zu sein, hat in mir schon was ausgelöst, ein Gefühl von Frieden und, hey, wir sind jetzt zusammen hier. Das war stark. Nur die Parolen gingen mir auf den Senkel. Vom 1. August ist mir zum Beispiel hängen geblieben, dass so Sprüche wie „Wir sind das Volk!“ oder „Merkel muss weg!“ oder „Lügenpresse“ sich fehl am Platz anfühlten. „Nazis raus!“ oder „Ich sag Friede – ihr sagt Freiheit!“, das hat Momentum bekommen – aber die anderen Sachen sind schnell abgeebbt. Da war ich offenbar nicht der Einzige, der das komisch fand. Auch die Wetterer auf der Bühne wie Heiko Schrang und Oli Janich, der kurz eingespielt wurde, bekamen nur ein paar Minuten Redezeit und waren schnell still. Als dann kurz bevor der Saft endgültig abgedreht wurde der „Mann im roten Shirt“ sein Friedenslied anstimmte und keiner um mich rum den Text kannte, dachte ich: Was bringt denn diese ganzen Typen eigentlich zusammen? Was haben die gemeinsam? Was wollen die? Hast du da eine Antwort drauf? 

CS: Die offensichtliche Gemeinsamkeit ist die Kritik an den Corona-Maßnahmen. Die allermeisten scheinen sich darüber hinaus nicht erst seit gestern in den alternativen Medien zu informieren. Viele wollen auch ihre eigenen Themen transportieren und nutzen die Demos als Plattform. Auch wenn es primär um ein Ende der Corona-Maßnahmen geht, handelt es sich eigentlich um Freidenkerfestivals. 

DW: Das sehe ich ähnlich, denn es ist wirklich ein kunterbunter, kaum fassbarer Haufen. So richtig deutlich wurde mir das am 29. August, denn da war die Stimmung meiner Auffassung nach schon etwas anders. Wie hast du das wahrgenommen, den Unterschied zwischen dem 1. und 29. August? 

CS: Vor der ersten Großdemo gab es noch viel Ungewissheit. Wie viele werden kommen? Wird alles reibungslos ablaufen? Wie verhält sich die Polizei? Wird es Störer oder Agents Provocateurs geben? Letztlich war es dann wunderbar friedlich, viele fühlten sich an darum ging, selbst zu gestalten und aktiv das Gespräch die Love Parade erinnert. mit anderen zu suchen, um sich kennenzulernen und mit diesem Erfolg im Rücken wuchsen die Ambitionen, vornehm ausgedrückt. Man könnte auch sagen, viele waren geradezu berauscht von der Größe der Bewegung. Ich war schockiert, wie viele plötzlich auf die Idee kamen, man könnte mit der Demo am 29. einen Rücktritt der Regierung erzwingen oder das Grundgesetz durch eine Verfassung ersetzen. 

DW: Sind das für dich keine legitimen Forderungen? 

CS: Das sind legitime Forderungen, aber zweifellos wird die Regierung in keiner Weise auf diese Forderungen eingehen. Genauso gut könnte man fordern, das Fiatgeldkartell aufzulösen und der Regierung wegen ihrer Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen den Prozess zu machen. Das wäre auch legitim, nur leider kann man damit im aktuellen gesellschaftlichen Klima wenig bewegen. Man muss seine Schlachten weise wählen. Ich denke, jetzt ist es an der Zeit, besonnen und fokussiert die Legitimation der Corona-Maßnahmen zu hinterfragen. Das ist ein neues, akutes Problem. Wenn wir das nicht bald lösen, werden Armut, Spaltung und politische Willkür weiter rasant zunehmen. Dann wird es noch schwieriger, überhaupt eine kritische Gegenkultur zu etablieren und wirkliche Grundsatzdiskussionen zu führen. Aber nur mal angenommen, die Regierung tritt zurück. Was kommt dann? Normalerweise gibt’s dann Neuwahlen, aber da würde sich nicht viel ändern. Im besten Fall kämen andere Gesichter der gleichen Parteien, aber strukturell bliebe alles beim Alten. Ich begrüße den Mut von Bodo Schiffmann und seinen Mitstreitern, WIR2020 zu gründen, aber natürlich ist das aktuell keine realistische Alternative für die Regierung. So weit sind weder die Partei noch die Gesellschaft. Genauso sehe ich aktuell auch keinen realistischen Verfassungsentwurf, der das Grundgesetz ablösen könnte. Wer hat sich denn überhaupt schon mal ernsthaft damit beschäftigt? Selbst unter Freidenkern ist das eine winzige Minderheit. Auch wenn die Anti-Lockdown-Bewegung eine beachtliche Größe hat, handelt es sich auf die Gesamtgesellschaft bezogen um eine kleine Minderheit ohne signikanten politischen Einuss. Somit ist von vornherein klar, dass die Regierung auf keine Forderung der Bewegung eingehen wird. Im Grunde sollte sich die Bewegung daher gar nicht primär an die Regierung richten, sondern an die Bevölkerung, um auf das öffentliche Bewusstsein einzuwirken, um über diesen Umweg wirklichen Druck auf die Politik auszuüben. Es geht gerade darum, unsere Mitmenschen abzuholen, die noch immer an das ofzielle Corona-Narrativ glauben. Wenn man jetzt zu viel will, besteht die Gefahr, dass man die einen überfordert oder verprellt, während man andere gefährlich radikalisiert. Kurz gesagt, anstatt unsere Zeit und unseren Fokus mit legitimen, aber kurzfristig unrealistischen Ambitionen zu verlieren, sind wir besser beraten, zunächst die größte Not zu lindern, um damit den Raum und die Freiheit zu schaffen, die wir benötigen, um die nächsten Themen anzugehen. 

DW: Am 29. August ist mir auch aufgefallen, dass schon ein paar mehr Typen zu sehen waren, die ich aufgrund ihrer Bulligkeit und ihrer Tattoos nicht zur bürgerlichen Mittelschicht gezählt hätte. Kann aber sein, dass ich einfach am falschen Platz war – im Nachhinein habe ich nämlich erfahren, dass am Bismarck-Denkmal hinter der Siegessäule, wo ich eine ganze Weile war, eine Reichsbürger-Demo angemeldet gewesen sein soll. Da war aber nichts abgetrennt oder so, ich saß da ganz normal im Park. Aufgefallen ist mir auch, dass Compact mit seinen Querdenker-Buttons präsent war, und überall hörte und las man was von einem Friedensvertrag. Das waren am Ende auch die Themen, die von den Medien aufgegriffen wurden: Reichsbürger, QAnon, Friedensvertrag. Wie ordnest du das ein? 

CS: Insgesamt waren die Reichsbürger eine winzige Minderheit, doch bei so einer Massendemo kann auch eine Minderheit durchaus beachtlich sein. Für die Medien war es natürlich ein gefundenes Fressen, als viele von ihnen auf die Stufen des Reichstags stürmten. Bezeichnenderweise stellt in den Mainstreammedien jedoch keiner die Frage, wie es sein kann, dass der Reichstag bei so einer Demo nicht vernünftig gesichert ist. Als sich der Demozug auf der Friedrichstraße versammelt hatte, war es der Polizei noch gelungen, Zehntausende Menschen stundenlang am Losziehen zu hindern, womit der Umzug durch die Stadt komplett ausel. Und dann schaffen sie es nicht, ein paar Hundert Leute von den Reichstagstreppen fernzuhalten? So viel Inkompetenz ist schwer zu glauben; hier ging es wohl eher darum, einen „Sturm auf den Reichstag“ zu provozieren, um danach die Masse der Demonstranten als wilde Antidemokraten zu verunglimpfen. Zudem war schon lange geplant, einen Graben um den Reichstag zu ziehen. Vorher hatte das einen faden Beigeschmack, jetzt kann man das mit solchen Bildern begründen. Anscheinend haben einige dieser Reichstagsstürmer wirklich geglaubt, Trump wäre heimlich in Berlin angekommen und würde ihre Aktion nun als Startsignal Demo am 9. Mai auf dem Alexanderplatz gesellschaft bezogen um eine kleine Minderheit ohne signikanten politischen Einuss. Somit ist von vornherein klar, dass die Regierung auf keine Forderung kann man das mit solchen Bildern begründen. Anscheinend haben einige dieser Reichstagsstürmer wirklich geglaubt, Trump wäre heimlich in Berlin angekommen und würde ihre Aktion nun als Startsignal werten, um zum großen Schlag auszuholen. Ist das zu fassen? Der Grad an Wunschdenken sprengt wirklich alle Dimensionen. Wunschdenken ist überhaupt das Stichwort, wenn es um einen Friedensvertrag, Q und so weiter geht. Immer ist da die Annahme, es gäbe eine Wunderlösung. Wenn man doch nur diesen Friedensvertrag hätte, wäre das alte System ein für alle Mal entmachtet. Die Guten übernehmen das Zepter und wir alle reiten glücklich in den Sonnenuntergang. Mal abgesehen davon, dass mit einem Friedensvertrag auch Reparationsforderungen auf Deutschland zukommen würden, muss man sehen, dass solche Verträge schlichtweg zahnlos sind; letztlich geht es immer um faktische Durchsetzungskraft. Es gibt so viele Verträge, die ständig gebrochen werden. Wir haben ein UN-Gewaltverbot, doch wer kümmert sich drum? Man kann tagein, tagaus die Souveränität des Deutschen Reiches proklamieren, aber wer soll das faktisch durchsetzen? Vielleicht ja eine Geheimarmee der guten Leute im Staatsapparat – so wie bei Q. Lehn dich zurück, vertrau dem Plan. Die Bösen werden eingesperrt, Trump und seine edlen Ritter retten die Welt. Verbreite die frohe Kunde, dann geht’s noch schneller. Diese Hoffnung auf einen Messias, der es für alle richten wird, wenn nur genug an ihn glauben, ist absolut nichts Neues. Du siehst das bei Religionen und auch in der alternativen Szene. Vor Q gab es NESARA, ein sagenhaftes Hauruck-Reformpaket, das „den Sumpf trockenlegen“ sollte, da wurden genau die gleichen Phrasen gedroschen wie heute. So wie ich das sehe, ist dieser hartnäckige Glauben an einen Erlöser im Außen antiproportional zur Bereitschaft, Selbstverantwortung zu übernehmen. Es scheint so, als würden manche lieber ihr ganzes Leben damit verbringen, eine märchenhafte Abkürzung zu nden, als sich der harten Arbeit zu widmen, die für einen tiefgreifenden und nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel notwendig ist. Insgesamt waren die Q-Anhänger und Reichsbürger jedoch nur eine kleine, wenn auch auffällige Minderheit. Die Mainstreammedien stürzen sich dennoch fast ausschließlich auf sie, weil es in ihr Narrativ vom Covidioten passt. Sie übersehen dabei, dass die meisten Demonstranten und auch die Redner sehr viel bodenständiger sind. 

DW: Eben. Ich habe da ein paar wirklich gute Reden auf der Bühne mitbekommen. Wir hatten ja schon am Telefon festgestellt, dass es dennoch von der Qualität wacklig war. Welche haben dich am meisten beeindruckt, welche sollte man gehört haben? Und welche nicht? 

CS: Am meisten beeindruckt hat mich David Claudio Siber von den Grünen (https://youtu.be/9aPtwYxKfjc). Sein Vortrag war sachlich, leicht verständlich und reich an Fakten. Er hatte diese Fakten zuvor schon seinen Parteikollegen präsentiert, doch die haben beim Thema sofort abgeblockt, deshalb kam er überhaupt erst zur Demo. Aufgrund seiner Rede – nicht aufgrund ihres Inhaltes, sondern einfach nur, weil er die Rede auf dieser Demo hielt – wurde er umgehend aus seiner Fraktion ausgeschlossen. So viel zur Debattenkultur in Deutschland. Wobei ich sagen muss, dass ich mir ein Gespräch zwischen Vertretern der Regierungslinie und Kritikern gewünscht hätte, also genau diese Art von Gespräch, die es im Öffentlich-Rechtlichen geben sollte, wenn diese ihrem eigentlichen Auftrag nachkämen. Wenn man nur Kritiker reden lässt, besteht die Gefahr, dass sich die Redner gegenseitig zu immer größeren Übertreibungen anstacheln. Wenn sowieso alle einer Meinung sind, ist praktisch keine Übertreibung zu groß, um nicht doch noch Beifall zu bekommen. So sprach Robert F. Kennedy jr. in seiner überwiegend guten Rede (https://youtu.be/GHBzjfS3PdU) zum Beispiel davon, wie Bill Gates mit seinen Satelliten jeden Quadratzentimeter des Globus überwacht. Das ist nun wirklich Geschwurbel – Applaus gab es trotzdem. Ich denke, wenn man auf so einer Großdemo auf der Bühne auch mit Vertretern der Gegenseite oder auch mit Unentschlossenen diskutiert, zwingt es die Redner, in ihren Argumentationen präziser zu sein. Das erhöht dann auch den Informationswert für alle Anwesenden, und man macht den Mainstreammedien vor, was sie eigentlich liefern sollten, nämlich verschiedenste kontroverse Meinungen respektvoll zu präsentieren und miteinander in ein zivilisiertes Gespräch kommen zu lassen – wobei es äußerst schwierig sein dürfte, einen Vertreter der Regierungslinie für ein Gespräch auf so einer Demo zu gewinnen und so ein Gespräch dann angemessen zu moderieren. Außerdem problematisch fand ich einige Aussagen, die über den Corona-Themenkomplex hinausgingen. Einer sprach vom „Marktradikalismus“, der überwunden werden müsse. Der meint vielleicht das Richtige, sagt aber denitiv das Falsche. Markt ist deniert als das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage, dazu gehören wir alle. Nun leben wir in einer Welt, in der es in jeder Nation ein gesetzliches Zahlungsmittel gibt, ein Bank-Staat-Geldschöpfungskartell. Die Geldschöpfung ist somit der Kontrolle des Marktes und damit der Kontrolle der Bürger entzogen. Und trotzdem spricht da jemand von Marktradikalismus und erntet dafür Applaus. Und dann wollen einige Voreilige auf dieser Demo eine neue Verfassung schreiben, wenn so einfache Zusammenhänge aus Wirtschaft und Politik von den meisten nicht verstanden werden? Das kann nicht gut gehen, da will man zu viel und weiß zu wenig. 

DW: Inzwischen scheint sich die „Querdenken“-Bewegung ja regelrecht zu zereischen … jedenfalls suggerieren das die großen Medien. Wenn man das so beobachtet, möchte man fast sagen: Plan aufgegangen, Bewegung gespalten. Ich muss da unwillkürlich an die 

CS: Am meisten beeindruckt hat mich David Claudio Siber von den Grünen (https://youtu.be/9aPtwYxKfjc). Sein Vortrag war sachlich, leicht verständlich und reich an Fakten. Er hatte diese Fakten zuvor schon seinen Parteikollegen präsentiert, doch die haben beim The

DW: Inzwischen scheint sich die „Querdenken“-Bewegung ja regelrecht zu zereischen … jedenfalls suggerieren das die großen Medien. Wenn man das so beobachtet, möchte man fast sagen: Plan aufgegangen, Bewegung gespalten. Ich muss da unwillkürlich an die Methoden denken, die auch frühere große Bewegungen zerknallt hat – Occupy, Pegida, die Montagsdemos. Auf jeden Fall war das starke Bedürfnis erkennbar, alle, die auf der Straße waren, nach rechts zu drücken. Siehst du da ähnliche Mechanismen? 

CS: Ganz offensichtlich sind die Mainstreammedien nicht wirklich daran interessiert, die komplexen Hintergründe der Demo und ihrer Teilnehmer objektiv zu beleuchten. Genau wie bei anderen Bewegungen vorher pickt man sich die größten Kontroversen heraus, stellt das im schlechtesten Licht dar und baut darauf die Berichterstattung auf. Was die Demobewegung selbst angeht, scheint es jetzt tatsächlich beträchtliche Querelen unter den Wortführern zu geben. Anfangs sind neue Bewegungen immer voller Enthusiasmus, gemeinsam etwas Neues auf die Beine zu stellen und eine Welle zu machen. In dieser Phase nehmen alle ihr Ego recht gut zurück, weil sie das gemeinsame Ziel erreichen wollen. Dann ndet das gemeinsame Event statt, damit bricht sozusagen die Welle. Manches funktioniert, manches nicht. Ganz wichtig ist dann, wie man mit Fehlern und Misserfolgen umgeht. Da geht es um Koniktmanagement, Stresstoleranz, Kommunikationsfähigkeit und so weiter. Mit bloßen Schuldzuweisungen kommt man da nicht weiter. Leider sieht man die ständig bei menschlichen Unternehmungen, das ist nicht nur bei Projekten der alternativen Szene der Fall. 

DW: Und was können wir dagegen tun? Wie können wir verhindern, dass so etwas immer wieder passiert? 

CS: Ich wünsche mir, dass sich die Demobewegung wieder mehr auf die aktive Teilnahme der Einzelnen besinnt, anstatt das zu einem Volksfest mit wenigen Einpeitschern und klatschenden Massen verkommen zu lassen. Je mehr sich die Einzelnen engagieren, desto stärker wird das Bewusstsein der Bewegung und desto eher verhindert man peinliche Entgleisungen, weil dann immer Leute da sind, die aufmerksam sind und so etwas sofort begegnen. Ich bin also dafür, die Kompetenz und Verantwortung innerhalb der Bewegung zu dezentralisieren, was natürlich Initiative von jedem Einzelnen erfordert. Das sendet dann auch ein anderes Bild nach außen. Stell dir vor, man sieht etliche Gesprächskreise, in denen sich die Demoteilnehmer begegnen – die Hippie-Oma mit dem Reichsbürger mit dem Libertären mit dem Punk und so weiter. Gerade weil diese Demobewegung so divers ist, bin ich mir sicher, dass da sehr interessante Gespräche entstehen können und einige sehr viel voneinander und miteinander lernen können.

Die wahre Revolution besteht meiner Ansicht nach nicht darin, eine möglichst große konforme Masse auf die Straße zu bringen, sondern das Bewusstsein, die Selbstverantwortung und die Tatkraft in jedem Einzelnen zu stärken. 

DW: Man muss aber sagen, dass Michael Ballweg, der Initiator von Querdenken 711, genau das vorhatte. Nach der Demo am 29. August wollte er zwei Wochen in Berlin ein Dauercamp veranstalten, mit verschiedenen Bühnen … im Grunde also das, was du gerade beschrieben hast. Offene Bühnen vor offenen Ohren. Das wurde ja dann – ich glaube, Querdenken-Anwalt Ralf Ludwig meinte, zum ersten Mal in der Geschichte – von ganz oben, nämlich aus Karlsruhe, mit Verweis auf das Infektionsschutzgesetz abgesagt. Und zwar ohne das die Gerichte darunter entscheiden zu lassen, was eigentlich hätte passieren müssen. Dezentral angelegt sind die Initiativen ja auch mit ihrem Postleitzahlensystem. Was meinst du, kriegt man so eine gesellschaftliche Debatte, die mir dringend notwendig erscheint, auch anderweitig hin? Wie? Und sind da überhaupt genügend Leute dran interessiert? 

CS: Diese Debatte ndet zum Glück längst statt. Wenn man mich vor zehn Jahren eingefroren hätte und heute – oder sagen wir besser: direkt vor dem Lockdown – wieder aufgetaut hätte, würde ich Freudentränen weinen. Ich weiß noch, wie frustriert ich war, weil ich nur selten Menschen begegnete, die sich für die wirklich wichtigen Informationen interessierten. Heute treffe ich sehr viel häufiger auf gut informierte Menschen, da ist schon echt was passiert. Das haben wir der Eigeninitiative all jener zu verdanken, die sich die Arbeit gemacht haben, sich selbstständig zu informieren oder als Teil der alternativen Medien selbst Informationen zu verbreiten. Trotzdem sind wir in vielerlei Hinsicht noch am Anfang. Viele erlebten einen „Weckruf“ – bei mir war das 2007 der Film „Zeitgeist“, der mich auf die Ungereimtheiten zur offiziellen Geschichte vom 11. September und auf die Hintergründe des Fiatgeldkartells aufmerksam gemacht hatte. Danach habe ich wie viele andere auch weitere Informationen aus den alternativen Medien geradezu verschlungen, was auch erst mal interessant ist, allerdings kann das zuweilen in Sensationsgier ausarten – sowohl aufseiten der Medienkonsumenten als auch bei den Produzenten. Gleichzeitig gibt es in der alternativen Szene jedoch auch schon lange ein Bewusstsein für diese Problematik. zu lassen. Je mehr sich die Einzelnen engagieren, desto stärker wird das Bewusstsein der Bewegung und desto eher verhindert man peinliche Entgleisungen, weil dann immer Leute da sind, die aufmerksam sind und so etwas sofort begegnen. Ich bin also dafür, die Kompetenz und Verantwortung innerhalb der Bewegung zu dezentralisieren, was natürlich Initiative von weitere Informationen aus den alternativen Medien geradezu verschlungen, was auch erst mal interessant ist, allerdings kann das zuweilen in Sensationsgier ausarten – sowohl aufseiten der Medienkonsumenten als auch bei den Produzenten. Gleichzeitig gibt es in der alternativen Szene jedoch auch schon lange ein Bewusstsein für diese Problematik. Jeder hat den Ruf nach praktischen Auswegen aus unserer misslichen Lage schon gehört und wahrscheinlich auch selbst ausgestoßen. Erfreulicherweise gibt es schon viele interessante Denkfabriken, Initiativen und Modelle, wie man die Gesellschaft verbessern könnte. Insgesamt bekommen die aber noch deutlich weniger Aufmerksamkeit als Sensationsgeschichten. Entwicklungsgeschichtlich ist das wahrscheinlich gar nicht anders zu erwarten. Sich mit spektakulären Geschichten berieseln zu lassen und danach abzuschalten, beschert einem schlicht schneller ein Gefühl von Befriedigung als trockene, komplexe und arbeitsaufwendige Sachverhalte zu studieren, andere Menschen für solche Themen zu begeistern oder Unternehmungen in der echten Welt aus dem Boden zu stampfen. Grundsätzlich gibt es bestimmt genug Interesse an einer Debatte über Grundsatzfragen; die entscheidende Frage ist aber, ob es auch ausreichend Bereitschaft und Engagement gibt. Viele wollen so eine Debatte und sehen auch die Notwendigkeit, aber sie geben schnell wieder auf oder verlieren den Fokus, wenn’s ans Eingemachte geht. Damit meine ich, wissenschaftliche Texte zu lesen, die vielleicht wenig aufregend sind, aber für ein gründliches Verständnis unserer Situation und unserer Möglichkeiten unverzichtbar sind. Mindestens genauso wichtig ist auch, aktiv Gesprächskompetenz zu entwickeln. Jeder weiß, wie viel Zündstoff in gesellschaftlichen Grundsatzdiskussionen ist. Wirklich kontroverse und produktive Diskussionen sind nur möglich, wenn wir lernen, wie man Trigger in sich selbst und im Gespräch mit anderen toleriert und entschärft. Ich denke, in diesem Jahrzehnt werden die Weichen gestellt, ob wir langfristig in eine dystopische Technokratie abrutschen oder die Grundlagen für eine aufgeklärte und freiheitliche Gesellschaft legen. Wenn wir jetzt nur den Themen nachlaufen, die der Mainstream vorgibt, haben wir dabei schon verloren, dann werden wir an der Nase herumgeführt. Natürlich bleibt es immer interessant, die Themen des Mainstreams genauer zu untersuchen. Aber entscheidend wird sein, selbst Themen vorzugeben, die mediale Agenda zu bestimmen und damit den gesellschaftlichen Diskurs zu prägen. Ganz oben auf meiner Liste sind dabei Empathie, Gesprächskompetenz und die Untersuchung von scheinbar bekannten, aber tatsächlich nur oberflächlich verstandenen Zusammenhängen aus Wirtschaft und Politik. Es geht darum, diese Themenfelder noch einmal genauer zu untersuchen. Je präziser wir unsere Situation begreifen und die Fallstricke des aktuellen Systems identifizieren, desto eher sind wir dazu in der Lage, eine wirkliche Alternative zu formulieren und zu manifestieren. Nach wie vor gibt es in der Gesellschaft keine Klarheit, geschweige denn Einigkeit, in was für einem System wir eigentlich leben und wie man sich aus seinen Zwängen befreien könnte. Die einen reden von einem ungezügelten freien Markt, die anderen von einer desaströsen Planwirtschaft. Für die einen bedeutet Freiheit, ein Recht auf Gesundheitsversorgung, Bildung, ein Dach über dem Kopf und ein bedingungsloses Grundeinkommen zu haben. Für andere bedeutet es, keinem Zwang durch andere Menschen oder Institutionen unterworfen zu sein. All dies gemeinsam zu ergründen und ein Konzept von Freiheit im gesellschaftlichen Kontext zu entwickeln, halte ich für absolut essenziell. 

DW: Das sind ja genau die Dinge, die du ausführlich in deinem Buch beschreibst und auf die ich noch genauer eingehen will. Lass uns darüber im nächsten Heft weiterschnacken. Sehen wir uns bei der Schweigedemo am 10. Oktober? Oder wo bist du bis dahin aktiv? 

CS: Was die Demoszene angeht, engagiere ich mich in Leipzig und Berlin. Am 19. September bin ich bei der Querdenken-Demo der Bewegung Leipzig. Am 27. September veranstaltet Adam Nümm wieder Social.is. Dancing auf dem Spreewaldplatz in Kreuzberg, wo ich auch regelmäßig mitmache. Da gibt es Redebeiträge, DJ-Sets und Livemusik. Ich werde an dem Sonntag jedoch auf dem Forum der Veränderung in Leipzig sein, das jeden zweiten Sonntag stattfindet und eine Art alternative Volkshochschule ist. Am 3. Oktober zum Tag der deutschen Einheit werde ich in Berlin sein. Von Michael Bründel aka Captain Future weiß ich, dass er einen Umzug der Freedom Parade plant, und ich kann mir vorstellen, dass auf den Straßen auch sonst einiges los sein wird. Am 10. Oktober bin ich ebenfalls in Berlin. Ich bin gespannt, ob und wie der Schweigemarsch tatsächlich stattfinden wird – immerhin hat die Polizei den letzten Umzug erfolgreich verhindert. Abgesehen davon kümmere ich mich weiter um meine ganz eigene Revolution. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt, meditiere, treibe Sport und arbeite an meiner Kommunikation. Letztlich geht es mir um eine ganzheitliche Befreiung der Menschheit. Das fängt bei jedem Einzelnen an und das betrifft alle Aspekte des Menschseins, egal ob körperlich, intellektuell, emotional oder spirituell. Jeder, der gründlich auf sich selbst achtgibt, verankert die Energie der Selbstverantwortung in dieser Welt und ermächtigt sich dazu, seine Umgebung entsprechend ihrer Bedürfnisse positiv zu beeinflussen. Wie viele das gewissenhaft tun, entscheidet letztlich alles. 

Christian Stolle ist Autor von „Generation Mensch“ (2019) – ein Überblick über die globalen Strukturen und einen Ausweg daraus. Mehr Informationen zum Buch und seinem Videopodcast finden Sie auf GenerationMensch.org. 

2020 NEXUS 91 www.nexus-magazin.de 


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