Zwischen zwei Welten
Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich nach Stunden im Tonstudio nach Hause ging. Ich hatte den ganzen Tag Dialoge synchronisiert – für einen Horrorfilm, der, wie so viele Erzeugnisse unserer Zeit, mit Dämonen, Blut und verzerrter Spiritualität spielte. Ich gab einer Figur die Stimme, die eine schamanische Zeremonie überlebt, nur um am Ende von „bösen Geistern“ besessen zu werden. Der Film war handwerklich sauber gemacht und ich wusste: Er würde Angst verbreiten. Angst vor dem, was eigentlich Heilung sein könnte. Ironischerweise fuhr ich nach dieser Arbeit direkt zu einem Singkreis. Dort, unter Kerzenlicht und mit frischen Blumen in der Mitte unseres Kreises, sangen wir alte Lieder, die vom Sterben und Wiedergebären erzählen – von Liebe, Vergebung und Erdung. Wir atmeten und tönten gemeinsam, hielten unsere Hände und waren im Miteinander verbunden – es fühlte sich beinahe an wie eine Art Gegenentwurf zu dem Berlin da draussen auf den Strassen. Für einen Moment spürte ich das, was mir tagsüber fehlte: Verbindung. Ich lebte gewissermaßen in zwei sehr unterschiedlichen Welten. In der einen bezahlte ich meine Miete damit, meine Stimme zu geben für ein Produkt der Angsterzeugung. In der anderen suchte ich nach meiner Stimme des Herzens. Und irgendwo dazwischen begann ich zu begreifen, dass diese Spannung kein individuelles Schicksal war – sondern ein Symptom unserer Zeit.
Die Macht des Erzählens
Menschen sind erzählende Wesen. Wir verstehen uns selbst durch Geschichten, wir
strukturieren Wirklichkeit durch sie. Doch was geschieht, wenn die dominanten Geschichten
einer Kultur Angst nähren statt Vertrauen? Wenn wir lernen, dass das Dunkle immer böse ist,
der Tod immer schrecklich, das Unbekannte immer gefährlich? In alten Kulturen wurden
Erzählungen genutzt, um Übergänge zu begleiten – vom Kind zum Erwachsenen, vom Leben
zum Tod, von der Angst zur Erkenntnis. Heute werden Geschichten oft dazu genutzt, um
Klickzahlen zu generieren, Emotionen zu manipulieren, Märkte zu schaffen. Der Mythos hat sich
in eine Maschine verwandelt. Und durch diese Maschine verlieren wir möglichwerweise zunehmend die Möglichkeit, durch Narrative zu heilen. Denn nach welchen Kriterien werden diese Produkte des Geistes geschafen? Längst sind es große Konzerne, die anhand wenig nobler Kriterien bestimmen, was produziert UND GESEHEN wird – und was nicht. Ich glaube, das ist einer der zentralen Brüche unserer Zeit: Wir wissen um die Macht der Geschichte – und doch lassen wir sie größtenteils unbewusst von wirtschaftlichen Algorithmen steuern, überlassen wir das Feld der geistigen Nahrung weitestgehend bzw im großen Stil dubiosen Interessensgruppen.
Kollektives Trauma
Vielleicht ist der Grund, warum wir destruktive Geschichten erzählen, nicht einfach Gier, sondern Schmerz. Die Menschheit trägt ein gewaltiges, kollektives Trauma. Jahrhunderte von Kriegen, Unterdrückung, Entfremdung und Angst haben Spuren hinterlassen. Das Unbewusste unserer Kultur ist voller Wunden – und Kunst wird oft zur Bühne, auf der diese Wunden schreien dürfen. Nur selten werden sie wirklich verwandelt. Der Horrorfilm ist so betrachtet kein Zufall. Er ist eine kulturelle Projektion, ein verzerrtes Ritual. Anstatt den Dämon zu integrieren, werfen wir ihn auf die Leinwand, um ihn dort zu bekämpfen Doch alles, was wir bekämpfen, bindet uns stärker an sich. Angst nährt Angst. Und in manchen modernen Filmen gewinnt sogar am Ende das Böse – leider inzwischen kein Tabu mehr in Zeiten der Dekonstruktion klassischer Erzählstrukturen. Der Teufel obsiegt am Ende des Horrorstreifens, das ist mal was anderes – oder schon salongfähiger Satanismus?
Genauso wie der Sharholder von Rheinmetall ein Teil der Kriegslogik ist, bin auch ich als Synchronsprecher ein Teil dieses Systems, das Schlechtes erzeugt. Ich spreche die Angst mit professioneller Präzision ein. Und dabei weiß ich: die Angst, die mich hierbei antreibt, ist die Angst meine Miete nicht zahlen zu können – hier bin ich unfrei, hier darf ich noch mehr ins Vertrauen gehen und mich aus dieser Branche lösen.
Vom Angstnarrativ zur Heilungskultur
Was wäre, wenn wir beginnen würden, anders zu erzählen? Nicht, indem wir die Dunkelheit leugnen, sondern indem wir sie mit Bewusstsein umarmen. Eine Heilungskultur beginnt dort, wo Geschichten nicht mehr nur unterhalten, sondern integrieren. Wo Tod nicht das Ende, sondern ein Teil des Kreislaufs ist. Wo Angst nicht das Gegenteil von Liebe, sondern ihr Tor wird. In meinen Singkreisen spüre ich manchmal, wie diese neue Erzählkultur schon keimt. Da sitzen Menschen, die sonst kaum miteinander sprechen und plötzlich singen sie dieselben Worte, atmen denselben Rhythmus. Keine Werbung, keine Angst, kein Markt. Nur Stimme, Klang, Gegenwart. Das ist eine andere Art von Geschichte: eine, die sich durch Resonanz erzählt, nicht durch Spektakel. Wir erzählen uns gegenseitig einen Raum der Geborgenheit, der Freiheit, der Achtsamkeit. Ich versuche dieses Hochgefühl am nächsten Tag zu behalten, wenn ich wieder im Studio bin und das Blut spritzt – aber es gelingt mir nicht. Wie lange kann ich das noch durchhalten, denke ich.
Ich glaube, wir stehen als Menschheit an einer Schwelle. Wir können weiter Geschichten des Schreckens erzählen – oder beginnen, Geschichten des Erwachens zu schreiben. Das eine führt zu
Kontrolle, das andere zu Freiheit. Die Hoffnung liegt nicht darin, dass das System sich von selbst
ändert. Sie liegt in der Entscheidung jedes Einzelnen, bewusster zu erzählen, zu konsumieren,
zu gestalten. In jeder Lehrerin, die Kindern Mythen der Verbindung vermittelt. In jedem Künstler,
der sich traut, nicht zu schockieren, sondern zu heilen. In jedem Menschen, der abends seine
Stimme erhebt – im Kreis, im Gebet, im Lied. In jedem Menschen, der sich aufmacht, in Gott zu vertrauen, gänzlich neue Wege erschliesst und darauf vertraut, dass es am Ende schon reichen wird für die Miete, egal was der Kopf sagt.
Ich bin noch immer Synchronsprecher für nervige Horrorfilme. Vielleicht muss ich als solcher erst sterben, um mein neues Ich zu gebären – den Sänger, Raumgeber, Ritualbegleiter, den Erzähler von Verbindung und Miteinander. Möglicherweise (und ganz gewiss) muss immer erst das Alte sterben, um Platz zu schaffen für das Neue. Wenn die Menschheit weiterkommen will, müssen wir lernen, den Tod nicht zu fürchten, die Angst nicht zu fliehen, die Geschichten mit unseren Herzen mitzugestalten. Dann werden wir vom Angstnarrativ zur Heilungskultur gelangen. Und wer weiß: Vielleicht beginnen diese neuen Geschichten leise – mit einem Lied in einem kleinen Kreis. Aber sie
könnten jene Melodie werden, die die Menschheit daran erinnert, wer sie wirklich ist.
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